Die Europäische Union will unabhängiger von Hard- und Software aus Übersee werden. Das Vorhaben digitale Souveränität ist ambitioniert.
Europas Weg zur digitalen Unabhängigkeit: Datenhoheit, eigene Cloud-Infrastrukturen und technologische Souveränität im Fokus.
(Quelle: Digitale Souveränität)
Digitale Souveränität ist in Deutschland längst kein Schlagwort mehr aus politischen Strategiepapieren, sondern zu einer zentralen wirtschaftlichen und technologischen Strategie geworden. Sie beschreibt die Fähigkeit, über die eigenen digitalen Infrastrukturen, Daten und Technologien selbstbestimmt zu verfügen – und zwar auf eine Weise, die Unabhängigkeit, Sicherheit und Innovationsfähigkeit zugleich gewährleistet. Die IT-Beratung Adesso definiert hier diese sechs Teilbereiche, für die das gelten soll: Hardware, Software, Cybersicherheit, Datenmanagement, Cloud und Künstliche Intelligenz.
Für die ITK-Branche ist dieses Thema aktueller denn je: Der europäische Data Act tritt in vollem Umfang in Kraft, die geopolitischen Spannungen in den Lieferketten verschärfen sich und die Diskussion über europäische Cloud-, KI- und Halbleiterstrategien hat sich zu einer industriepolitischen Priorität entwickelt.
Hinter dem Begriff steht im Kern das Bestreben, Abhängigkeiten zu erkennen, zu bewerten und strategisch zu steuern. Deutschland und Europa haben in den vergangenen Jahrzehnten eine digitale Infrastruktur aufgebaut, die auf globalen Technologien basiert – von amerikanischen Cloud-Diensten über asiatische Chips bis hin zu proprietären Software-Ökosystemen. Häufig sind Nutzer auf einen einzelnen Anbieter angewiesen - der Vendor Lock-in.
Die internationale Vernetzung ist zweifellos ein Innovationsmotor, birgt jedoch auch erhebliche Risiken. Lieferengpässe bei Halbleitern, extraterritoriale Rechtsansprüche wie der US-Cloud-Act oder plötzliche Exportbeschränkungen zeigen, wie verwundbar digitalisierte Volkswirtschaften sind, wenn sie kritische Technologien nicht selbst beherrschen.
Der CEO von T-Systems, Ferri Abolhassan, fordert: „In einer Zeit, in der Daten das ‚neue Gold‘ sind, darf sich Europa nicht von von aussen regulierten Plattformen abhängig machen. Wir müssen wieder Herr unserer Daten werden!“
„In einer Zeit, in der Daten das ‚neue Gold‘ sind, darf sich Europa nicht von von aussen regulierten Plattformen abhängig machen. Wir müssen wieder Herr unserer Daten werden!“ Ferri Abolhassan, CEO T-Systems
Quelle: Ferri Abolhassan
Ein Binnenmarkt für Daten
Mit dem Data Act, der seit dem 12. September 2025 unmittelbar gilt, reagiert die Europäische Union auf diese Herausforderungen. Die Verordnung verpflichtet Unternehmen, Daten aus vernetzten Geräten oder digitalen Diensten in standardisierten Formaten verfügbar zu machen und den Wechsel zwischen Cloud-Anbietern zu erleichtern. Ziel ist, einen europäischen Datenbinnenmarkt zu schaffen, der Innovation und Wettbewerb fördert, ohne Datenschutz oder Interoperabilität zu gefährden.
Für die ITK-Branche bedeutet das erhebliche Anpassungen, sowohl technisch als auch organisatorisch. Cloud-Anbieter müssen ihre Systeme so gestalten, dass Kunden ihre Daten problemlos exportieren und zu anderen Plattformen migrieren können. Hersteller vernetzter Geräte sind verpflichtet, klar definierte Schnittstellen zu schaffen, über die Nutzerdaten geteilt werden können. Und IT-Dienstleister müssen ihre Vertragsstrukturen anpassen, um Haftungsrisiken und Datenschutz eindeutig zu regeln.
Gleichzeitig investiert die Bundesregierung in Programme, die die technologische Basis für mehr Eigenständigkeit schaffen sollen. Projekte wie GAIA-X, der Sovereign Cloud Stack (SCS), openDesk oder die Open-Source-Plattform openCode sind darauf ausgelegt, offene Standards, Interoperabilität und Transparenz in Cloud- und Verwaltungsarchitekturen zu fördern.Auch in der Mikroelektronik soll die Abhängigkeit von asiatischen Anbietern langfristig reduziert werden. Die Absage des Magdeburger Intel-Grossprojekts im Juli zeigt allerdings, wie schwierig das Vorhaben ist. Zumindest der taiwanesische Chip-Riese TSMC baut seine Fabrik in Dresden mit dem Ziel, sie 2027 in Betrieb zu nehmen. Dennoch bleibt Europa bei Halbleitern und Hochleistungs-Chips mit seiner strukturellen Schwäche auf Jahre hinaus von aussereuropäischen Lieferanten abhängig. Auch bei der KI ist die Abhängigkeit von US-Riesen wie OpenAI oder Google gross.
Die Strategie der EU-Kommission hat das Ziel, Europa zu einem planungssicheren Standort für KI zu machen. Fünf sogenannte Giga-Fabriken sind hier angedacht, in denen KI-Modelle entwickelt und trainiert werden könnten. Vier Milliarden Euro investiert die Europäische Union.
Für die ITK-Branche sind diese Entwicklungen mehr als nur regulatorische Veränderungen – sie markieren einen grundlegenden Wandel der Marktbedingungen. Unternehmen, die bislang auf globale Cloud-Infrastrukturen oder proprietäre Software-Lösungen gesetzt haben, müssen ihre Strategien überdenken. Die Anforderungen an Transparenz, Datenportabilität und Interoperabilität steigen, während gleichzeitig die Nachfrage nach vertrauenswürdigen, europäischen Alternativen wächst. Besonders öffentliche Auftraggeber, Energieversorger oder Industrieunternehmen aus kritischen Infrastrukturen verlangen zunehmend europäische Lösungen, die Datenschutz, Sicherheit und digitale Unabhängigkeit vereinen.
Quelle: Telecom Handel
In der Praxis heisst das: Unternehmen müssen ihre technologische Basis kritisch überprüfen. Eine sogenannte Souveränitätsanalyse kann aufzeigen, in welchen Bereichen zentrale Systeme, Plattformen oder Dienste von nicht europäischen Anbietern stammen und wie gross die Austauschbarkeit tatsächlich ist. Dabei geht es nicht um Abschottung, sondern um die Fähigkeit, alternative Optionen zu entwickeln und Wechselkosten zu reduzieren. Ein Fokus auf offene Standards und Open Source kann helfen, diese Flexibilität herzustellen. Offener Code ermöglicht Transparenz und Überprüfbarkeit, schafft Vertrauen und reduziert die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern. In vielen Bereichen – von Cloud-Infrastrukturen über Datenanalyse bis zu Büro-Software – stehen schon heute ausgereifte Open-Source-Lösungen bereit, die bei Sicherheit und Performance konkurrenzfähig sind.
Zudem sollten Unternehmen ihre Architekturen so gestalten, dass Datenportabilität und Interoperabilität nicht nachträglich aufgesetzt, sondern von Beginn an mitgedacht werden. Wer Datenstrukturen und APIs modular aufbaut, erleichtert den Wechsel zwischen Plattformen und erfüllt zugleich die Anforderungen des Data Act.
Ebenso wichtig ist es, internes Know-how aufzubauen: Fachkräfte müssen die rechtlichen und technischen Grundlagen digitaler Souveränität verstehen: vom Umgang mit Open-Source-Lizenzen bis hin zu Fragen der Cloud-Compliance oder Datenhoheit.
Quelle: Telecom Handel
Viele Förderprogramme
Auch Kooperationen innerhalb Europas gewinnen an Bedeutung. Viele Förderprogramme – etwa im Rahmen von IPCEI on Cloud Infrastructure and Services oder GAIA-X – bieten Unternehmen Chancen, sich an europäischen Referenzarchitekturen zu beteiligen und von gemeinsamer Entwicklungsarbeit zu profitieren. Wer hier frühzeitig andockt, kann nicht nur technologisches Wissen aufbauen, sondern auch seine Position in entstehenden europäischen Ökosystemen festigen.
Der politische Rahmen dafür wird aktiv weiterentwickelt: Am 18. November soll in Berlinmit 900 Teilnehmern aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Gesellschaft der Europäische Gipfel zur digitalen Souveränität stattfinden, ausgerichtet von Deutschland und Frankreich. Dort will man konkrete Massnahmen zur Stärkung der europäischen Technologiebasis in den Bereichen Cloud, Künstliche Intelligenz und Halbleiterproduktion beschliessen. Parallel dazu wird auf EU-Ebene die Umsetzung des Data Act konkretisiert, und der AI Act tritt in seine operative Phase ein. Damit entsteht ein europäisches Regulierungsumfeld, das die digitale Souveränität nicht nur fordert, sondern messbar macht.