Pokémon Go 09.08.2016, 04:57 Uhr

Analyse: Eine Welt im Pokemon Go Monsterfieber

Die ganze Welt jagt Pokémons: Der Entwickler Niantic hat mit seinem Smartphone-Spiel den Knüller des Jahres geliefert. Marketer wollen jetzt auf den Zug aufspringen. Doch noch fehlt es an professionellen Strukturen.
(Quelle: Shutterstock.com/Lenchanted_fairy)
Das Handy vibriert in meiner Tasche. Unvermittelt bleibe ich stehen, fische das Smartphone heraus und mache mich auf die Suche. Irgendwo hier muss sich ein Pokémon versteckt haben. Die Augen fest aufs Display gerichtet scanne ich meine Umgebung, drehe mich im Kreis. Da, mitten auf dem Weg, ein Nidoran! Das fehlt noch in meiner Sammlung. Schnell lege ich an, ziele, werfe meinen PokeBall per Fingerschnipp auf dem Handy-Screen. Daneben! Das Nidoran, sogar ein ziemlich gutes mit 236 WP, nutzt die Gelegenheit und flieht in einer Staubwolke. Mist! Mit dem Handy in der Hand fange ich an zu laufen - weit kann das Vieh doch nicht sein. An der nächsten Strassenecke remple ich einen Gleichgesinnten an, der wie ich konzentriert auf sein Handy starrt. Ein Blick, ein Grinsen, man erkennt sich. "Vorne am PokeStop hat einer ein Lockmodul aktiviert", gibt er mir freundlich mit auf den Weg. "Vielleicht haste da Glück." Er hastet weiter - ihm fehlen noch zwei Kilometer, bis sein wertvolles 10-Kilometer-Ei ausgebrütet ist.

Ein Hype in Zahlen

Noch gibt es sie: die Uneingeweihten, für die PokeStops, Arenen, Himmibeeren und Dragorans (noch) böhmische Dörfer sind und die beim Lesen des bisherigen Texts nur Bahnhof verstehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Leser aber verstehen, wovon ich da schreibe, wächst allerdings stündlich - ebenso wie die Zahl der Infizierten.
Das Virus Pokémon Go hat sich, seit das Social Game erstmals am 6. Juli im App Store und im Google Play Store zum Download bereitgestellt wurde, mit rasender Geschwindigkeit verbreitet. Über 75 Millionen Mal wurde das Spiel bislang weltweit heruntergeladen. Mittlerweile ist Pokémon Go in 36 Ländern der Welt verfügbar - und in ­jedem dieser Länder steht das Spiel in ­beiden App-Stores auf Platz 1 der beliebtesten Apps. 
Damit hat Pokémon Go einen besseren Start als die Dating-App Tinder hingelegt und dürfte mit der Zahl seiner weltweiten Nutzer bald Twitter übertreffen. Dazu kommt, dass Spieler im Schnitt 43 Minuten pro Tag mit der App verbringen, also mehr als mit etablierten Grössen wie Snapchat, Whatsapp oder Instagram. Und nach "Pokémon Go" wird auf Google häufiger ­gesucht als nach "sex".
Auch was den finanziellen Erfolg betrifft schreibt Pokémon Go Geschichte: In den 20 grössten westlichen Märkten, in denen die App bisher freigeschaltet wurde, geben ihre Nutzer nach Angaben des Spieleentwicklers Niantic täglich insgesamt 3 Millionen US-Dollar aus. Umgerechnet bringt das Spiel damit pro Tag und Nutzer rund 25 US-Cent ein - also mehr als Candy Crush, die bisherige Nummer 1 der Free-to-Play-Handyspiele.

Unerwartet grosser Wurf eines Gaming-Dinosauriers

Der Mega-Erfolg von Pokémon Go macht Marktbeobachter auf der ganzen Welt sprach- und ratlos. Kaum jemand hätte dem Gaming-Dinosaurier Nintendo, der sowohl am Entwickler Niantic als auch am Lizenzhalter The Pokemon Company signifikante Anteile hält, ­einen derartigen Wurf zugetraut. Und das noch dazu ausgerechnet mit einem ­Handy-Game: Bisher hielt das japanische Unternehmen eisern an der Strategie fest, Spieleinhalte nur mit hauseigener Hardware - vom Gameboy bis zur Spielekonsole Wii - zu verkaufen.
Pokémon Go ist ­Nintendos erster ernstgemeinster Versuch abseits der eigenen vier Wände. Die Entwicklung des Spiels überliess das Unternehmen der Ex-Google-Tochter Niantic, die dafür wiederum die bereits bestehende Infrastruktur von "Ingress" nutzte, ein Augmented-Reality-Spiel, das ähnlich wie Pokémon Go Standortdaten und Google-Maps-Informationen nutzt, um in der Umgebung Spiel­ereignisse in Augmented Reality auslösen zu lassen. Ingress läuft schon seit drei Jahren und hat in dieser Zeit eine treue Nutzerschaft rund um den Globus generiert; doch das Spiel blieb immer ein Nischenprodukt für Nerds und Technik-Freaks.
Erst die knuffigen, weltweit bekannten Pokémons bescherten Niantic den Erfolg, den es sich schon für Ingress erträumt, aber auch für die virtuelle Monsterjagd offenbar nicht erwartet hatte, wenn man die häufigen Server-­Probleme, die offenbar dem Massenansturm geschuldet sind, als Massstab nimmt. "Verschiedene Komponenten tragen zu dem aktuellen Hype bei", wagt Prof. Claus-Peter H. Ernst von der Frankfurt University of Applied Sciences, der Pokémon Go wissenschaftlich untersucht, einen Erklärungsversuch. "Zum einen begeistert Pokémon Go generationsübergreifend. Die ältere Generation kennt Pokémon noch von früher vom ersten Game Boy, aus dem Fernsehen oder von Sammelkarten, die sie auf dem Schulhof getauscht hat. Sie kann die ursprünglichen 151 Monster des ersten Spiels oft noch benennen. Da lautet die Faszination Nostalgie. Die mittlere Generation kennt das Spiel noch vom Nintendo DS und lässt sich jetzt von den Augmented Reality-Elementen begeistern. Und die jüngsten Spieler freuen sich über die soziale Komponente, die Pokémon Go ins Spiel zurückbringt. Die Leute verabreden sich zum Pokémon-Jagen auf Facebook oder treffen sich spontan am PokéStop. Man tritt einer sehr realen Gemeinschaft bei - obwohl man ein virtuelles Spiel spielt."
Zusätzlich setzt das Spiel auf bewährte ­Gamification-Konzepte - es gibt Belohnungen, der Sammlertrieb wird angesprochen, die Motivation mit vielen kleinen, leicht erreichbaren Zielen hochgehalten. Auch die für das Spiel unabdingbare ­Bewegungskomponente trägt sicher zum Erfolg bei - schliesslich ist Sommer, da ist frische Luft die perfekte Ausrede für eine weitere Spiel-Session.




Das könnte Sie auch interessieren