Den Avatar zum Arzt schicken

Den Zwilling mit Daten füttern

Ein digitaler Zwilling, der mit Daten von nicht-invasiven, auf der Haut angebrachten Sensorsystemen gefüttert wird, erlaubt hingegen die exakte und personalisierte Dosierung der Wirkstoffe. Die mathematischen Modellierungen des digitalen Doppelgängers berücksichtigen auch die Hauteigenschaften des Patienten. Denn je nachdem, an welcher Körperstelle das Pflaster angebracht wird, oder ob das Medikament bei einem sonnengegerbten Sportler, einer älteren Dame mit papierner Alabasterhaut oder einem zarten Frühchen appliziert wird, verläuft die Wirkstoffaufnahme unterschiedlich.
So lässt sich die exakte Dosis des Medikaments mit einer massgeschneiderten und zeitabhängigen Ausstossrate aus dem Pflaster steuern, denn das intelligente System blickt nicht rückwärts, sondern in die Zukunft. «Als zusätzlichen positiven Effekt versprechen wir uns, die Dosierung – etwa von Schmerzmitteln – so weit senken zu können, dass die Patienten gerade optimal versorgt sind», so der Forscher.
In anderen Forschungsbereichen sind virtuelle Repräsentanten spätestens seit der Apollo-13-Mission der NASA ein Thema. Damals nutzte man «Doppelgänger» in Simulationen, um die Besatzung des beschädigten Raumschiffs sicher zur Erde zu bringen. Heute existieren digitale Zwillinge etwa für das Flugzeugdesign, den Fahrzeugbau oder im Gebäudeunterhalt.
«In der Medizin träumt man von kompletten In-silico-Doppelgängern, die vorhersagen, wie ein Mensch altert oder wie sich ein künstliches Gelenk im Körper abnutzt», sagt Defraeye. Doch die Realität ist noch nicht so weit. Daher sei das System aus intelligenten Pflastern und Echtzeit-Simulationen ein Schritt in einen noch wenig erforschten Bereich mit enormem Potenzial, so der Empa-Forscher. Gleichzeitig komme man mit dem personalisierten «Digital Twin» für die transdermale Medikamentenabgabe dem menschlichen Avatar ein Stück näher.
Für die Entwicklung des «Digital Twin» im Gesundheitsbereich kann Defraeye auf erfolgreiche Forschungsergebnisse aufbauen: Im Bereich der Lebensmitteltechnologie entwickelte er bereits digitale Zwillinge verschiedener Früchte innerhalb eines noch laufenden, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projekts. Um die Kühlkette vom Produzenten bis zum Händler in Echtzeit kontrollieren und künftig auch steuern zu können, stellte der Forscher biophysikalische Zwillinge von Äpfeln, Mangos und anderen Früchten her, die sich in ihren thermischen Eigenschaften exakt wie das natürliche Vorbild verhalten und als Sensor wirken. Der passende «Fruchtspion» begleitet das echte Obst auf seiner Reise bis zum Supermarkt und meldet Sensordaten an den digitalen Zwilling, der die Kühlung, etwa im Lastwagen, anpasst. Das virtuelle Obst basiert in diesem Fall auf einem dreidimensionalen CAD-Modell eines Apfels oder einer Mango in Verbindung mit entsprechenden multiphysikalischen Simulationen.
Für den Avatar der transdermalen Therapie werden die Empa-Forscher ein komplexes multiphysikalisches Hautmodell programmieren, das mit den Daten der Hautsensoren gefüttert wird. Als Helfer für die Entwicklung der Sensoren kommen biophysikalische Zwillinge des Menschen, sogenannte Manikins, zum Einsatz. Basierend auf den Informationen der sensorbestückten Puppen können physiologische Kennwerte und Reaktionen eines realen Menschen abgeschätzt werden, etwa die Veränderung der Hauttemperatur oder der Schwitzrate.
Die Manikins und ein verknüpftes Computermodell sind an der Empa bereits heute ein etabliertes System zur Simulation menschlicher physiologischer Reaktionen. Das System wird nun zum Aufbau der deutlich komplexeren digitalen menschlichen Doppelgänger genutzt, die durch eine Vielzahl von Variablen bestimmt werden. «Denn der virtuelle Zwilling muss nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern auch die Dosierung von Medikamenten zuverlässig, sicher und individuell vorhersagen können», sagt Defraeye.
Dieser Artikel wurde von Andrea Six geschrieben und erschien zuerst auf www.empa.ch.



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