Videowerbemarkt 31.03.2016, 13:11 Uhr

Die grosse Video-Verwirrung

Der Videowerbemarkt boomt - in sozialen Netzwerken und bei Publishern. Dabei stellt sich die Frage: Zahlen Advertiser auch für Inhalte, die nicht gesehen wurden?
(Quelle: Shutterstock.com/Robuart)
Wer kennt das nicht? Beim Scrollen durch den Newsfeed von Facebook sticht ein Link aus dem drögen Strom von Status-Updates und Urlaubsbildern hervor und verleitet den Nutzer zum Klicken - der Traum eines jeden Publishers.
Allerdings: Noch während der User den einleitenden Text oder den zum Video ­gehörenden Artikel liest, startet vollkommen unerwartet und in voller Lautstärke eine dem redaktionellen Content vorgeschaltete Videowerbung, auch Preroll ­genannt. Häufig ist dabei nicht einmal der Videoplayer des Publishers zu sehen, ­sodass der erschrockene Seitenbesucher die dröhnende Bewegtbildwerbung nicht ohne Weiteres stumm schalten kann.
Nicht selten führt solch eine Videowerbung zu einer unerwünschten Reaktion: Der Nutzer verlässt die Seite und wird sie womöglich aufgrund seiner schlechten Erfahrung so schnell nicht wieder aufrufen. Das ist ärgerlich - für den Betreiber der Website, aber auch für den Werbungtreibenden, der die Video-Anzeige beim Publisher gebucht hat.

Fehlende Einheitlichkeit auf lokaler und globaler Ebene

Keine Frage: Der deutsche Videowerbemarkt hat ein Problem. Er leidet unter ­einer zerklüfteten Vermarkterlandschaft, in der einheitliche Standards fehlen, an ­denen sich die Branche orientieren ­könnte. Das hat zur Folge, dass die Advertiser bei Werbeschaltungen im Instream-­Bereich (Anzeigen, die im direkten Umfeld - also vor, während oder nach professionell ­erstellten, redaktionellen Bewegtbild­inhalten laufen) auch schon mal für ausgespielte Ads zahlen, die der Nutzer gar nicht beachtet hat.
Ursache hierfür sind die üblichen ­Abrechnungsstandards. "In Deutschland ist das typische Abrechnungsmodell der Tausend-Kontakt-Preis (TKP)", erklärt Felix Badura. Er beschäftigt sich als Director Product and Operations beim Werbewirkungsspezialisten Meetrics fortlaufend mit dem Thema. "Ausbezahlt wird bei ­Videostart ohne Berücksichtigung von Sichtbarkeit, Ton und Player-Grösse."

Advertiser zahlen auch für ignorierte Anzeigen

Damit zahlen Advertiser im boomenden Videomarkt allerdings auch für Anzeigen, die vom Nutzer ignoriert oder nur kurz beziehungsweise gar nicht gesehen wurden. Oder, um es etwas drastischer darzustellen: Womöglich häufiger als vermutet werden Werbungtreibende bei der Videowerbung hinters Licht geführt.
Insbesondere Unternehmen, die die vielfältigen Werbemöglichkeiten der sozialen Netzwerke im Bewegtbildbereich nutzen, sehen sich mit einer unübersichtlichen Flut von Standards und Regelungen konfrontiert. Bei Snapchat beispielsweise gilt eine Videowerbung im Moment ihres Starts, also ab der ersten Millisekunde, als gesehen. Damit wird eine Zahlung seitens des Advertisers fällig. Das Ad läuft mit Ton, ohne Autoplay und im vertikalen Fullscreen.
Im Gegensatz dazu starten die Bewegtbildformate bei Facebook automatisch, ­sobald ein gewisser Prozentsatz des Rahmens auf dem Bildschirm des Nutzers zu sehen ist. Das Problem hierbei: Das Video startet ohne Ton und im Autoplay-Modus. Dass der Nutzer das Video bemerkt und darüber hinaus tatsächlich angesehen hat, ist keinesfalls garantiert. Abgerechnet wird allerdings bereits nach drei Sekunden Abspieldauer im Newsfeed des sozialen Netzwerks.

Das Top-down-System der globalen Player

Das ist - neben der nicht garantierten Aufmerksamkeit - aus einem weiteren Grund für den Werbungtreibenden nicht zufriedenstellend: Da immer noch ein Grossteil der Videowerbung auf Facebook und Co. nicht speziell für das veränderte Nutzungsverhalten in den sozialen Medien konzipiert ist, entspricht die Abrechnung nach drei Sekunden mitnichten der Clip-Länge. Denn der durchschnittliche TV-Spot, der im Netz des Öfteren einfach zweitverwertet wird, ist 30 Sekunden lang. Die Abrechnung erfolgt also schon, nachdem nur zehn Prozent des Videos abgespielt wurde. Selbst bei 15-Sekündern hat der Nutzer zum Zeitpunkt der Abrechnung gerade einmal ein Fünftel des Werbevideos gesehen. "In der Summe lässt sich sagen: Bei den führenden sozialen Netzwerken ist der Umgang mit Videowerbung noch nicht so standardisiert, wie sich Werbungtreibende das erhoffen würden", fasst Manager Badura die bestehende Diskrepanz bei der Abrechnung mit diplomatischen Worten zusammen.
Obwohl auch auf nationaler Ebene nicht jeder Vermarkter auf die gleichen Standards setzt, haben Unternehmen und Verbände in Deutschland ein gemeinsames Ziel ausgegeben: die Integration der weltweit agierenden Marktteilnehmer. So fordert beispielsweise Thomas Port, ­Geschäftsführer des Online-Vermarkters Sevenone Media, einer Tochter des TV-Konzerns ProSiebenSat1: "Player, die in den Markt streben, sollten die bewährten lokalen Marktstandards akzeptieren." ­Und weiterhin beklagt er, dass "Google, YouTube und Facebook sich nicht messen lassen, den Kunden eigene Standards aufdrängen und keine transparenten Modelle verfolgen."
In die gleiche Kerbe schlägt auch Lars Gibbe. Er leitet die Gremienarbeit und Mediaforschung bei der Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM). "Was derzeit noch fehlt, ist die volle Integration von Google, Facebook und Co. in die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung, AGF." Nur wenn dies ­geschehe, könne es eine einheitliche und von allen Marktteilnehmern anerkannte Bewegtbildwährung für den deutschen Videowerbemarkt geben. In der Pflicht sieht er dabei vor allem die amerikanischen Tech-Riesen.

Player-Grösse etc.: Woran es zurzeit scheitert

"Bei allem Respekt vor der Grösse einzelner Anbieter: Auch Facebook wird immer nur Teil des Ganzen bleiben und nie allein das Universum der Bewegtbildnutzer abbilden können", erklärt OWM-Mann ­Gibbe. Oder wie es Christian Griesbach, Managing Director DACH und Eastern Europe beim Videovermarkter Teads, ausdrückt: "Solange sich die Big Four der Branche - nämlich Google, Facebook, Amazon und Apple - weiterhin bei der Teilnahme an Joint Industry Commitees zurückhalten, bleibt die Standardisierung schwierig."
Deutlicher könnte die Botschaft kaum sein. Wer bei diesem Potpourri an Forderungen, Uneinigkeiten und Beschwerden einen Vorreiter sucht, der etwas Hoffnung in die unübersichtliche Videowerbewelt bringt, sollte einen kurzen Blick auf die Qualitäts-Guidelines der Sevenone Media werfen. Der Vermarkter berücksichtigt die aktuellen OVK-Standards in Bezug auf ­digitale Videowerbung, setzt auf User- und werbefreundliche Videoplayer (Click-to-Play, Fullscreen-Wiedergabe im sichtbaren Bereich, mittige Positionierung des Players) und lässt die eigenen Angebote von der Agof (Arbeitsgemeinschaft Online Forschung) messen.
Der Blick sollte aber nicht allein auf den Ertrag gerichtet sein. Der Wunsch, den ­Sevenone-Manager Port an alle Werbungtreibenden richtet, lautet: Schaut bei der Buchung von Videowerbung nicht nur auf den Preis, sondern auch auf die Qualität.

Ansätze zur Lösung der existierenden Probleme

Neben falschen Einsparungen bei den ­monetären Investitionen gibt es für Felix Badura noch drei weitere Punkte, die zur schwierigen Situation im nationalen und internationalen Videowerbemarkt beitragen: "Auslieferung an nicht menschliche User, Auslieferung in nicht vereinbarten Player-Grössen - zum Beispiel im Content Ad Slot - und Auslieferung in Umfeldern mit schlechter Sichtbarkeit aufgrund der Nutzungssituation."
Der erste Punkt bezieht sich auf die steigenden Prozentzahlen von Robot Traffic und Ad Fraud, also Seitenaufrufe und Werbeauslieferungen, die von Maschinen und nicht von Menschen hervorgerufen wurden. Laut dem "Media Quality Report" des Vermarkters Integral Ad Science lag der Ad-Fraud-Wert in Deutschland im vierten Quartal 2015 bei „nicht unerheb­lichen“ 7,9 Prozent. In den Vereinigten Staaten ist der Anteil von betrügerischen Werbeanzeigen laut unterschiedlichen Quellen sogar drei- bis viermal so hoch wie in der Bundesrepublik.
Damit dieser Wert nicht weiter steigt, fordert Thomas Port wieder mehr menschliche Kontrolle im digitalen Werbegeschäft. "Wenn die Maschinen damit beginnen, Menschen zu kontrollieren, haben wir einen Denkfehler gemacht", lautet der Einwurf des Sevenone-Managers.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein zweiter Wert aus dem Report von Integral Ad ­Science. Danach liegt die Viewa­bility, also die Sichtbarkeit von Werbe­anzeigen, in Deutschland derzeit bei 53,4 Prozent. Im Vergleich zur vorherigen ­Erhebung ist der Wert um immerhin 2,3 Prozent gestiegen - eine durchaus positive Entwicklung.

Advertiser sollten Kennzahlen analysieren

Wer als Werbungtreibender vermeiden möchte, dass seine Videos den Nutzer nicht erreichen, sollte in einem ersten Schritt die vorhandenen Kennzahlen analysieren. Die Viewability-Rate lässt zum Beispiel Rückschlüsse auf die Grösse und die Positionierung eines Video-Players ­sowie auf das Nutzerverhalten zu. Ist die Sichtbarkeit niedrig, so war der Player vielleicht nur kurz zu sehen. Möglich ­wäre auch, dass der User das Tab gewechselt oder vielleicht sogar den Computer verlassen hat.
Die Plattform YouTube wird beispielsweise häufig so genutzt: Der User nutzt die Playlist-Funktion, startet die Wiedergabe von mehreren Musiktiteln und wechselt in ­einen Modus, der dem Radiohören ähnelt. "Hierbei laufen viele Spots hintereinander technisch vollständig ab, ohne ein Nutzungsinteresse des Users", erklärt Meetrics-Manager Badura. Weil die Spots technisch komplett ausgeliefert wurden, muss der Advertiser zahlen, obwohl kein Nutzer die Werbung gesehen hat.

Jedes System hat seinen eigenen Stellenwert

Eine niedrige Sichtbarkeitsrate kann indes auch ein Indiz für die Verwendung eines Content Ad Slot (300 mal 250 Pixel) sein. Dieser ist deutlich kleiner als ein Standard-Videoplayer (640 mal 480 Pixel) und ist häufig weniger prominent auf der Seite eingebunden (zum Beispiel in der Randspalte). Und wenn der Adblocker aktiviert ist, war der "Ad Slot", also der Werbeplatz, überhaupt nicht sichtbar.
Um den in der Branche unbeliebten Werbeausblendern ein Schnippchen zu schlagen, können Publisher und Werbungtreibende einen technischen Ansatz verwenden. Statt die Mp4-Dateien des Werbespots und des redaktionellen Contents einfach hintereinander abzuspielen und damit dem Adblocker die Möglichkeit zu geben, das Video Ad auszublenden, können Werbe- und Content-mp4 zu ­einer Datei zusammengeführt werden. Damit wird der Adblocker vor die Wahl gestellt: Entweder er zeigt auch die Werbung an oder aber der redaktionelle Content, für den sich die Nutzer interessieren, bleibt verborgen.
Dennoch wird es auch künftig viele ­Fälle geben, in denen Werbungtreibende für Videowerbung zahlen, die aus mannigfaltigen Gründen nicht die ­gewünschte Wirkung entfalten konnte. Wer bei Videowerbung keine unangenehmen Überraschungen erleben möchte, sollte sich also Zeit nehmen, Partner analysieren und sich vor allem bewusst machen, dass 1.000 Views auf Facebook nicht 1.000 Views auf YouTube entsprechen - beide Systeme aber ihre eigenen Stellenwert haben.




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