Bilanzvorlage erneut verschoben 18.06.2020, 18:39 Uhr

Wirecard: Opfer eines "gigantischen Betrugs"?

Wirecard verschiebt erneut die Vorlage seines Jahresabschlusses für 2019 und hält es für denkbar, Opfer eines gigantischen Betrugs geworden zu sein. Die Zeit eilt, wenn bis Freitag kein Abschluss vorliegt, könnten Banken Kredite über zwei Milliarden Euro kündigen.
Wirecards Hauptsitz in Aschheim
(Quelle: Wirecard)
Der Wirtschaftskrimi um den Zahlungsabwickler Wirecard spitzt sich dramatisch zu. Wegen milliardenschwerer Unklarheiten in der Bilanz musste der Dax-Konzern die Vorlage seines Jahresabschlusses für 2019 am Donnerstag quasi in letzter Minute ein weiteres Mal verschieben. Das Management hält es für denkbar, dass Wirecard Opfer eines gigantischen Betrugs geworden ist, und kündigte eine Strafanzeige gegen unbekannt an. Jetzt droht Wirecard die Zeit davonzulaufen: Wenn bis Freitag kein testierter Jahresabschluss vorliegt, könnten Banken dem Unternehmen Kredite über zwei Milliarden Euro kündigen.

Der Kurs der Wirecard-Aktie stürzte nach den Nachrichten um bis zu zwei Drittel auf 35 Euro in den Keller und lag zuletzt noch mit 43 Prozent im Minus bei 59,48 Euro. Sollte sich der Kurs nicht nachhaltig erholen, könnte droht dem Konzern Experten zufolge im September sogar der Abstieg aus dem Dax.

Unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken

Eigentlich wollte der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München noch am Vormittag die mehrfach verschobene Veröffentlichung seines Jahresabschlusses nachholen. Nachdem der Konzern die Abschlüsse der Jahre 2016 bis 2018 bereits einer Sonderprüfung durch das Prüfunternehmen KPMG unterzogen hatte, schauten die regulären Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) nun die 2019er-Zahlen besonders gründlich an.

Doch für das Testat, das sie dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten offenbar entscheidende Belege. EY habe den Konzern darüber informiert, dass über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro keine ausreichenden Prüfungsnachweise vorlägen. Es gebe Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder oder aus dem Bereich von Banken, die die Treuhandkonten führen, "unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden". Damit gehe es um etwa ein Viertel von Wirecards gesamter Bilanzsumme.

Um schnellstmögliche Aufklärung bemüht

Hintergrund seien aktuelle Mitteilungen von zwei Banken, die die Treuhandkonten seit 2019 führen, hiess es. Demnach könnten die betreffenden Kontonummern nicht zugeordnet werden. "Der verantwortliche Treuhänder steht in kontinuierlichem Kontakt mit den Banken und der Wirecard AG." Laut Wirecard-Chef Markus Braun hat der Wirtschaftsprüfer früher erteilte Bestätigungen der Banken nicht mehr anerkannt. "Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", versicherte der Manager.

Den Angaben zufolge haben Tochtergesellschaften von Wirecard auf die Treuhandkonten Sicherheitsleistungen von insgesamt 1,9 Milliarden Euro eingezahlt, um für das Risikomanagement für teilnehmende Händler zu garantieren. Die Konten würden von zwei asiatischen Banken geführt, die beide über ein Investmentgrade-Rating verfügten. Der seit 2019 amtierende Treuhänder nehme in Asien zahlreiche Mandate wahr, schreib Wirecard weiter.

Opfer eines "gigantischen Betrugs"

Wirecard sehe sich als mögliches Opfer eines "gigantischen Betrugs", sagte ein Sprecher. Der Konzern will daher jetzt Anzeige gegen unbekannt erstatten. "Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", sagte Vorstandschef Braun. Ihm zufolge ist aber noch unklar, "ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil von Wirecard vorliegen.

Der Zahlungsabwickler steht bereits seit einer Artikelserie mit Vorwürfen in der britischen "Financial Times" Anfang 2019 unter Druck. Mit der KPMG-Sonderprüfung früherer Bilanzen wollte der Vorstand den angekratzten Ruf des Konzerns eigentlich wieder aufpolieren.

Inzwischen hat jedoch die Finanzaufsicht Bafin wegen möglicherweise irreführender Ad-hoc-Mitteilungen des Unternehmens zu diesem Thema Strafanzeige erstattet. Erst vor wenigen Tagen durchsuchte deshalb die Staatsanwaltschaft die Geschäftsräume des Konzerns. Nach Bekanntwerden des Betrugsverdachts am Donnerstag kündigte die Bafin zudem an, ihre Untersuchung auszudehnen. "Selbstverständlich fliesst der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein", sagte eine Sprecherin der Behörde.

Finanziell unter Druck

Jetzt droht Wirecard auch finanziell unter Druck zu geraten. Sollte der Konzern einen testierten Abschluss bis zu diesem Freitag (19. Juni) nicht vorlegen, könnten Banken ihm bestehende Kredite in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro kündigen, warnte das Unternehmen.

Ein neues Datum für die Vorlage des Konzernabschlusses steht indes noch nicht fest. "Der Vorstand arbeitet mit Hochdruck daran, den Sachverhalt in Abstimmung mit dem Abschlussprüfer weiter aufzuklären", hiess es.
Zu allem Überfluss droht dem Wirecard wegen der erneuten Verschiebung der Bilanzvorlage Ärger mit der Deutschen Börse. Wie in solchen Fällen üblich, werde aufgrund der nicht fristgerechten Lieferung des Jahresfinanzberichts die Einleitung eines Sanktionsverfahrens geprüft, sagte ein Sprecher der Deutschen Börse der Finanz-Nachrichtenagentur dpa-AFX.

Vorläufige Zahlen

Nach vorläufigen Zahlen, die Wirecard am Donnerstag schliesslich veröffentlichte, steigerte das Unternehmen sein Transaktionsvolumen im vergangenen Jahr um 38,5 Prozent auf 173 Milliarden Euro. Der Umsatz legte um 37,5 Prozent auf 2,8 Milliarden Euro zu. Der Nettogewinn wuchs um fast 39 Prozent auf gut 482 Millionen Euro.

Wirecard bietet Händlern im Internet und auch offline die Technik zur Abwicklung von elektronischen Zahlungen an, so etwa die Akzeptanz von Kreditkarten und auch die Risikoabsicherung von Zahlungen. An den über die eigene Plattform abgewickelten Transaktionen verdient Wirecard über Gebühren mit.

Selbst in der Corona-Krise wuchs das Geschäft zuletzt weiter, auch weil die Menschen angesichts der Pandemie und geschlossener Geschäfte verstärkt online einkauften und öfter auf die Zahlung mit Bargeld verzichteten. Dadurch konnte der Konzern nach im Mai veröffentlichten vorläufigen Zahlen spürbare Rückgänge im Geschäft mit Fluggesellschaften und Reisebüros abfedern.


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