Automatisierte Werbung 26.10.2017, 10:07 Uhr

Programmatic Advertising: Das sind die Vor- und Nachteile

Die datengetriebene Kampagnen-Automatisierung gewinnt deutlich an Akzeptanz. Wir zeigen das Grundkonzept von Programmatic Advertising und beleuchten die Vor- und Nachteile.
(Quelle: shutterstock.com/Michael_R_Ross)
Unternehmen, die sich mit ihren Marken behaupten wollen, sehen sich im Zeitalter der Digitalisierung einer ganz neuen Herausforderung gegenüber: einer erdrückenden Vielfalt und Komplexität der Medienkanäle.
Eine Antwort darauf, die in jüngster Zeit immer mehr Zuspruch bei deutschen Marketern findet, lautet: datengetriebener Medieneinkauf.  Die Lebenswelten der verschiedenen soziodemografischen Zielgruppen driften immer stärker auseinander - auch und gerade im Hinblick auf die Mediennutzung. Aber: "Wir können einen Euro nur einmal ausgeben", erklärt Tina Müller, Chief Marketing Officer der Opel Automobile GmbH. Müller weiss, wovon sie spricht, denn sie konnte mit der Kampagne "Umparken im Kopf" trotz des geringsten Budgets unter den grossen Vier der deutschen Autohersteller innerhalb kurzer Zeit umsatz- und markentechnisch einen Richtungswechsel einleiten.
Die Nettowerbeumsätze im Programmatic Advertising sollen in Deutschland dieses Jahr auf 864 Millionen Euro zulegen.
Quelle: BVDW
Digitale Medien bieten so einerseits zwar viele Möglichkeiten, das gewünschte Markenbild individualisiert zu kommunizieren. Doch auf der anderen Seite erschwert die damit einhergehende Publikums- und Gerätefragmentierung diese Aufgabe - und das bei gewachsenen Ansprüchen auf Konsumentenseite. Denn der Verbraucher erwartet mittlerweile ein individualisiertes Kundenerlebnis und eine kohärente Botschaft und zwar kanalübergreifend.

Aufmerksamkeitsdefizit

Diese komplexe Gemengelage hat Folgen: "Sie müssen heute schon relativ viel Geld in die Hand nehmen, damit Ihre Posts und Ihre Werbung überhaupt gesehen werden", erklärt Müller. Der Kampf, um auf Social Media überhaupt gesehen zu werden, sei "riesig".
"Der Erfolg von Unternehmen ist vergänglicher denn je", bestätigt Oliver Busch, Head of Agency bei der Facebook Germany GmbH und stellvertretender Vorsitzender der Fokusgruppe Programmatic Advertising im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW). "Die Aufmerksamkeit schwindet weg", bedauert er. Marken müssten daher "radikal interessant" sein und Werbung müsste relevanter werden - für jedes Segment der anvisierten Zielgruppe. Mit herkömmlichen Ansätzen sind diese Ziele angesichts der Vielfalt der Kanäle nicht so leicht unter einen Hut zu bringen. "Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten, (…) Werbung zu buchen und Inhalte zu entwickeln", so Tina Müller.
Um diesen und anderen Herausforderungen des digitalen Medienzeitalters zu begegnen, greifen Marketer neuerdings verstärkt auf die Technik des Programmatic Advertisings zurück, kurz Programmatic, also auf die softwaregesteuerte Automatisierung von Transaktionen rund um die Buchung von Werbung. Sie basiert im Kern auf einer Technologie-Infrastruktur für den datengetriebenen Einkauf einzelner Werbekontakte, für die Aussteuerung von Werbeschaltungen und die Verwaltung ganzer Kampagnen.

Anbieter und Nachfrager

Echtzeit: Demand-Side-Plattform (DSP) und Sell-Side-Plattform (SSP) führen Werbetreibende, Publisher und Zielgruppe zusammen.
Quelle: Centro.net
Um zu verstehen, wie Programmatic Advertising funktioniert, ist es sinnvoll, sich das Zusammenwirken der beteiligten Mitspieler klarzumachen. Die Werbungtreibenden beziehungsweise ihre Agenturen bilden die sogenannte Nachfrageseite (Buy Side), die über das zu vergebende Budget und die Werbe­inhalte verfügt. Auf der Anbieterseite (Sell Side) wiederum stehen die Publisher und Website-Betreiber. Sie stellen ihr Werbe-Inventar, die Werbeplätze, für den automatisierten Verkauf zur Verfügung.
Auf der Buy Side werden Display-Werbeplätze nachgefragt, auf der Sell Side angeboten. Sogenannte Demand-Side-Plattformen (DSPs) und Sell-Side-Plattformen (SSPs) übernehmen die automatisierte Abwicklung und Aussteuerung von Display-Werbeplätzen anstatt wie früher Werbung direkt auf einer Website oder in einer Fernsehsendung zu buchen. Die DSP bietet in Echtzeit auf freie Werbeplätze, basierend auf den vom Markeninhaber vordefinierten Targeting-Kriterien. Ein Bieterverfahren sorgt für die Preisfindung  zwischen Angebots- und Nachfrageseite und ermöglicht so das automatisierte Aussteuern der Werbung.
Es geht bei diesem Prozess nicht etwa darum, einen bestimmten Medienkanal, sondern vielmehr die gewünschte Zielgruppe zum richtigen Zeitpunkt mit personalisierter, hoch relevanter Werbung zu erreichen. Davon versprechen sich die Marketing-Verantwortlichen die Verringerung der Streuverluste und zugleich eine Maximierung der verkaufsfördernden Wirkung. Für das Targeting kann man eine Fülle an demografischen, geografischen oder verhaltensorientierten Merkmalen definieren, zum Beispiel die Anzeigen nur zu bestimmten Uhrzeiten ausspielen oder von der aktuellen Wetterlage abhängig machen.
Kurz: Um eine zielgruppengerechte Relevanz der Werbebotschaft zu schaffen, ist Programmatic Advertising "der richtige Weg", wie Oliver Busch vom BVDW resümiert.

Programmatisch lenken

Ob Programmatic Advertising tatsächlich hält, was es verspricht, ist für Ulrich Kramer, Mitgründer und Geschäftsführer der Agenturgruppe Pilot keine Frage mehr. "Die Vorteile von Programmatic sind nachgewiesen", stellt Kramer fest. Allein die Möglichkeit der Aussteuerung von Kontaktfrequenzen auf einzelne Nutzer ist aus seiner Sicht ein "Riesenvorteil" für die Nachfrageseite.
Doch auch für die Anbieterseite würden sich enorme Effizienzvorteile ergeben, vor allem eine bessere Kapitalisierung von hochwertigem Werbeinventar. Kramer berichtet, dass viele der Medienpartner seiner Agentur zuvor teilweise gar nicht gewusst hätten, welche Inventarperlen sie in ihrem Portfolio hatten. Das sei erst durch Programmatic Advertising deutlich geworden, weil man "eben deutlich mehr Refinanzierung daraus erwirtschaften kann, als es vielleicht in der Vergangenheit der Fall war". Kramer prognostiziert denn auch, dass in Zukunft sämtliche digitale Werbung programmatisch monetarisiert werde.
Die Zahlen belegen jedenfalls schon jetzt, dass Programmatic Advertising in Deutschland schnell an Popularität gewinnt. Lag der Umsatz damit im ersten Halbjahr 2016 noch bei 258 Millionen Euro, legte er im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres um satte 53 Prozent auf 334 Millionen Euro zu. Für das laufende Jahr erwartet der BVDW Nettowerbeumsätze in Höhe von 864 Millionen Euro - ein Zuwachs von
46 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Für die BVDW-Erhebung melden die führenden Sell-Side-Plattformen programmatisch gehandelte Nettowerbeumsätze für digitale Display-Werbung. Laut der Werbestatistik des Online-Vermarkterkreises OVK wächst auch der Gesamtmarkt stabil, allerdings im einstelligen Bereich. Der BVDW prognostiziert, dass der Gesamtumsatz mit Programmatic Advertising in Deutschland 2017 respektable 45 Prozent der digitalen Display-Werbung ausmachen wird.

Anbieter-Beispiele

Drei Beispiele sollen zeigen, welche Anbieter von DSPs und SSPs auf dem Markt für Programmatic Advertising aktiv sind. 
Active Agent AG: Der Dienstleister betreibt eine Demand-Side-Plattform (DSP) für ein einfaches, transparentes und sicheres Handling datengetriebener Werbekampagnen - ob Display, Mobile, Video oder Social Advertising - in Echtzeit mit direktem Zugriff auf alle relevanten SSPs und Werbenetzwerke, um den Kampagnenradius auf die gesamte Zielgruppenreichweite auszudehnen. Marken können ihre Werbebotschaft auf ein Zielgruppensegment oder feingranular sogar an einzelne Kunden richten.
Die Lösung von Active Agent unterstützt die Teilnahme an Auktionen, den Zugang zu Private Premium Exchanges grosser Vermarktungspartner und die Hinterlegung bereits bestehender direkter Beziehungen mit Werbepartnern zur Ausführung mit festen Konditionen (Managed Programmatic Buying). Die Plattform fungiert somit als "intelligenter Unterhändler für einen wertorientierten und kontrollierten Mediaeinkaufsprozess", so die Beschreibung von Active Agent. Sie lässt sich in Agentur-Adserver, SEM-Bid-Manager, proprietäre Optimierungslösungen und Mediaplanungs- sowie Media-Assetmanagement-Systeme integrieren.
Smaato: Die kalifornische Smaato mit Filiale in Hamburg hat mit SPX eine mehrfach preisgekrönte globale Echtzeit-Werbeplattform im Köcher. Nach Aussagen des Anbieters handelt es sich dabei "um die einzige integrierte mobile Monetarisierungslösung für Publisher und mobile App-Entwickler", die programmatisches Advertising auf Mobilgeräten und in nativen Apps gebührenfrei (über Umsatzbetei­ligung) ermöglicht. SPX integriert sich mit Smaatos RTB Ad Exchange für den Zugriff auf über 450 Nachfragequellen, darunter 260 mobile DSPs und 190 Werbenetzwerke.
Mobalo: Die Münchner Mobalo GmbH bietet mit dem mobalo Intelligent Grid (MIG) eine Lösung speziell für mobiles Targeting, um den passenden Nutzer in Echtzeit werblich anzusprechen - falls gewünscht standortbezogen. Sobald sich ein Nutzer in der Nähe der betreffenden Adresse befindet und sein mobiles Gerät aktiv verwendet, erscheint die Mobalo-Werbung auf bereits bestehenden Werbeplätzen in Apps und auf mobilen Webseiten.

Risiken von Programmatic Advertising

So vielseitig und unbestritten die Vorteile des Programmatic Advertisings auch sind - ganz ohne Risiken geht es für die Marken, die sich dieser Werbetechnik bedienen wollen, nicht ab. Dazu zählen Anzeigenbetrug, schlechte Sichtbarkeit, Anzeigenblockierung sowie die weitgehend ungelöste Brand-Safety-Problematik, die Gefahr also, dass programmatische Anzeigenplatzierung im Einzelfall dazu führt, dass Werbung im Kontext unangemessener News-Themen oder gar illegaler Inhalte erscheint und der Marke einen Imageschaden zufügt. Einen solchen Fauxpas hat dieses Jahr Google mit You­tube hinbekommen. Werbung für Marken wie L‘Oréal und McDonald‘s erschien in Videoinhalten von Terrorgruppen und Fake-News-Kanälen.
Programmatic Advertising übt nicht zuletzt auch disruptive Kräfte auf den Agenturmarkt aus. Das Aufkommen von US-Konzern-dominierten "Walled Gardens" (geschlossene Programmatic-Plattformen) wie die von Google oder Facebook führt zu einer Machtverschiebung zuungunsten deutscher Vermarkter. Angesichts der eingesetzten Adtech-Stacks scheinen sich viele der führenden deutschen Vermarkter - da­runter Ströer Digital, Burda­Forward, G+J e|ms, Bauer Media, iq digital und YOC - in starker Abhängigkeit von Googles DoubleClick for Publishers zu befinden. Bei einem Adtech-Stack handelt es sich um die technische Implementierung der Anzeigenvermarktung durch den Adserver und/oder die Supply-Side-Plattform beziehungsweise das Werbenetzwerk.
Die grossen US-Anbieter hätten sich mit ihren technologisch fortgeschrittenen Programmatic-Plattformen frühzeitig "Gatekeeper-Positionen" im Hinblick auf Reichweite und Nutzerdaten im deutschen Markt gesichert und könnten jetzt "die Werbeindustrie in ihren Würgegriff nehmen", kritisiert Joachim Schneidmadl, Geschäftsführer der Technologie-  und Medienholding Virtual Minds AG aus Freiburg.
Quelle: OWM/Deloitte „Value of Advertising“
Programmatic-Plattformen hätten das Potenzial, etablierte Geschäftsmodelle in Schieflage zu bringen oder auszuhebeln, warnt Schneidmadl. Sie hätten sich nämlich an der erfolgskritischsten Schnittstelle "festgesetzt" - zwischen Angebot und Nachfrage - und würden so den Zugang von Unternehmen zu ihren Kunden und Märkten kontrollieren. Die geschlossenen Plattformen würden ihren Betreibern zudem tiefe und exklusive Einblicke in sensible Kundendaten verschaffen, über die nicht einmal die betroffenen Markeninhaber verfügten.
Deutsche Agenturen würden auf dem Markt für Programmatic-Plattformen dagegen schon allein deswegen über Hürden wie Opt-in- und Login-Pflicht stolpern, weil sie den riesigen Nutzerzahlen von Facebook und Google kein vergleichbares Gefolge entgegenzusetzen hätten, argumentiert Joachim Schneidmadl.  Aufgrund der niedrigen Margen der Big Player würden deutsche Anbieter zugleich in einen "ruinösen Verdrängungs­wettbewerb" gezwungen. Und da der Wechsel des Adtech-Stacks meist sehr ressourcen- und kostenintensiv sei, hätten bei vielen Vermarktern operative Notwendigkeiten des Tagesgeschäfts gegenüber strategischen Überlegungen den Vorrang.
Im Endeffekt würden deutsche Vermarkter langfristig "die Hoheit über die eigene Wertschöpfungsstrecke" aufs Spiel setzen, befürchtet Joachim Schneidmadl. Aus diesem Grunde haben sich denn auch im Mai einige deutsche Grosskonzerne zusammengeschlossen - darunter Allianz, Axel Springer, Daimler, Deutsche Bank und der Kartendienst Here der deutschen Autobauer -, um mit einer gemeinsamen "Registrierungs-, Identitäts- und Datenplattform" Google, Facebook und Twitter Paroli zu bieten, über deren Dienste sich viele Nutzer bei Anwendungen im Internet anmelden können.
Mit der in Hamburg ansässigen Yieldlab AG gibt es für deutsche Vermarkter noch eine weitere Alternative: eine marktabdeckende Technologieplattform für Programmatic Advertising mit einer gezielt auf deutsches Qualitätsinventar ausgerichteten Vermarktungslogik. Dadurch erhoffen sich alle Beteiligten, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die zur effektiven (Re-)Finanzierung qualitativ hochwertiger, freier und unabhängiger Medien beitragen.

Fazit

Programmatic verändert die Art und Weise, wie Werbung präsentiert und vermarktet wird. Die Auswirkungen gehen weit über die reine Automatisierung des Medieneinkaufs hinaus: Sie greifen in Geschäftsmodelle ein und hebeln bewährte Ansätze aus. Für Markeninhaber, Vermarkter, Publi­sher und Agenturen ändert sich plötzlich die Marktdynamik. Für sie gilt es, im Kopf "umzuparken", und der Marktdominanz der grossen US-Player durch Allianzen aktiv entgegenzusteuern.




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