Marktreport 08.04.2016, 17:55 Uhr

Virtual Reality: Zwischen Vision und Realität

Virtual Reality elektrisiert aktuell die Elektronikhersteller als neuer potenzieller Wachstumsmarkt, doch die TK-Distribution ist noch eher zurückhaltend.
Je grösser der Bildschirm, desto schöner und realistischer das Multimedia-Erlebnis: Dieses Gesetz galt lange, wird jetzt aber durchbrochen von den Virtual-Reality-Brillen. Denn diese bringen mediale Inhalte direkt vor das menschliche Auge und das auch noch rundum: Wer den Kopf bewegt und sich umschaut, sieht neue Bilder mit der passenden Perspektive. Wenn dazu ein Headset und ein Controller verwendet werden, ist der Anwender komplett von der Aussenwelt abgeschnitten und taucht in ein Spiel oder ein Video ein.
Das ist auch der Unterschied zwischen Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR), ein Begriff, der in diesem Zusammenhang oft fällt. Letztere nutzt Bildschirme, um zusätzliche Informationen über reale Bilder zu legen, schottet den Anwender aber nicht total ab. Die bekanntesten AR-Beispiele sind die Brillen Goo­gle Glass und Microsoft HoloLens, viele Smart­phone-Apps verwenden dieses Prinzip ebenfalls schon länger.
Auch VR-Brillen sind nicht wirklich neu, doch bisher waren sie entweder für breite Kundenkreise zu teuer oder technisch unzureichend. Die Zielgruppe beschränkte sich vor allem auf PC-Gamer, die solche Accessoires an ihre Rechner anschlossen. Durch die Verbindung mit Smartphones, die dank immer schnellerer Prozessoren die anspruchsvolle Rechenarbeit für die VR-Software leisten können, sind deutlich geringere Herstellungskosten möglich geworden.
„Aus dem 2015er-Hype für Enthusiasten wird 2016 ein Erlebnis für eine grosse Mehrheit“
Alexandra Zaddach, Head of Product Marketing, IT and Mobile Computing, Samsung Electronics GmbH
Damit ist, zumindest was die technischen Voraussetzungen betrifft, der Markt für VR bereitet: Laut einer Befragung des Branchenverbands Bitkom kann sich jeder fünfte Bundesbürger ab 14 Jahren vorstellen, eine solche Bille zu nutzen, was einem Potenzial von 14 Millionen Anwendern entspricht. Vor allem jüngere Menschen haben ein gesteigertes Interesse an dem Thema. Alexandra Zaddach, Head of Product Marketing bei Samsung: „Aus dem 2015er-Hype für Enthusiasten wird 2016 ein Erlebnis für die grosse Mehrheit.“

Virtual Reality: Google und Facebook vorne dabei

Es rappelt im Karton: Das Cardboard von Google bietet für wenig Geld einen ersten Eindruck, was VR ist
Welche Möglichkeiten manche Player in der VR-Hardware sehen, belegt der Kauf des Brillenherstellers Oculus durch Facebook im März 2014. Auf dem MWC im Februar 2016 bekräftigte Facebook-Chef Mark Zuckerberg seine Absicht, auf der Social-Media-Plattform 360-Grad-Videos verstärkt zu fördern. Auch Google hat sich des Themas angenommen und mit dem Cardboard die bisher einfachste VR-Brille gebracht: eine faltbare Pappschachtel für 15 US-Dollar, in die ein Smartphone quer eingelegt wird.
Die Bildschirmdarstellung wird von den VR-Apps aus dem Play Store auf zwei Sichtfelder angepasst. Sie nutzt die Lagesensoren des Telefons für die virtuelle Bewegung im Raum. Solche „Geräte“ ermöglichen aber kaum mehr als einen schnellen Einblick, wie VR aussehen könnte, denn niemand wird wohl länger mit einer Pappschachtel vor dem Gesicht herumlaufen wollen.
Das nächste technische Level bilden Brillen wie die Gear VR von Samsung: Hier wird das Smartphone quer eingelegt, die Brille hat auch noch einen Micro-USB-Stecker, durch den sie vom Telefon erkannt wird und automatisch in den Betriebsmodus wechselt. Ein weiteres Feature ist das Touchpad an der Seite, mit dem der Anwender navigieren kann. Ihm stehen auch ein Hauptmenü und Software des Partners Oculus zur Verfügung, allerdings klaffen im entsprechenden App-Store noch viele Lücken.
Ob das Smartphone als Bildschirm in einer Brille dient oder ob diese mit eigener Optik nur an selbiges per Kabel oder Blue­tooth angeschlossen wird, muss die Zukunft zeigen. LG hat auf dem MWC eine Brille für das G5 präsentiert, die so funktioniert und den Vorteil hat, dass sie dank weniger Gewicht sowie Volumen einen höheren Tragekomfort bietet. Allerdings verteuern die Displays auch den Kaufpreis, der noch nicht genannt wurde.

VR-Brillen sind ein teurer Spass

Wirklich kostspielig sind vor allem Spezialbrillen wie die Oculus Rift mit 699 Euro oder die angekündigte Vive von HTC mit 899 Euro. Einen Preisbrecher bringt Sony mit der PlayStation VR im Spätsommer für 399 Euro. All diese Geräte sprechen mit aufwendiger Display-Technik primär Spieler an und ermöglichen es diesen zum Beispiel dank Sensoren wie bei der Vive, sich auch frei in Räumen zu bewegen, anstatt nur auf dem Sofa zu sitzen.
Für den TK-Handel sind solche Produkte aber wohl zu weit vom bestehenden Kernsegment entfernt. Hier werden eher die Brillen interessant, die mit einem Smartphone zusammen wirken und im Verkauf auch damit gebündelt werden können. Entsprechend wird momentan die Gear VR von Samsung in Marketing und Vertrieb gefördert. Sie wurde für Frühbesteller des Galaxy S7 gratis beigepackt. Mit dem psychologisch wichtigen Preispunkt von 99 Euro spricht sie vor allem Kunden an, die VR ausprobieren oder nur gelegentlich nutzen wollen.
HTC will den Markt mit der Vive aufmischen
Zudem kann sie im Fachhandel einfach vorgeführt werden, denn der Platzbedarf ist gering und die Möglichkeit, bei Kunden, die eine solche Technologie in der Regel zum ersten Mal erleben, einen „Wow-Effekt“ zu erzielen, ist recht gross. Selbst wenn sie danach keine VR-Brille kaufen, könnten sie aufgrund des Erlebnisses überhaupt erst in einen Shop gelockt werden und später wiederkommen.
Allerdings müssen laut Alexandra Zaddach von Samsung auch bestimmte Bedingungen erfüllt sein: „VR ist eine Technologie, die vielen Kunden erst noch nähergebracht werden muss. Daher arbeiten wir in diesem Bereich mit spezialisierten Fachhändlern zusammen, wo Konsumenten auf gezielt ausgebildetes Verkaufspersonal treffen. Denn gut geschultes Personal an den Geräten sowie die richtige Testatmosphäre, zum Beispiel mit bequemen Sitzmöglichkeiten, sind wichtige Voraus­setzungen dafür, dass Verbraucher ohne Hürden in das atemberaubende, neue VR-Erlebnis eintauchen können.“
Viele TK-Distributoren haben die Möglichkeit des Themas ebenfalls erkannt und VR-Brillen inzwischen in ihre Portfolios aufgenommen. Meist sind dies Produkte von Samsung, ausserdem sind als Anbieter Zeiss, One Button und LG recht gut vertreten. Doch es zeigt sich auch, dass die Produktauswahl noch stark beschränkt ist. Hier könnten die nächsten Monate aber mehr bringen, wobei manche Elektronikhersteller wohl noch abwarten, in welche Richtung sich der Markt entwickeln wird.

Virtual Reality: Warten auf die Inhalte

Auch die Distributoren sehen die Aussichten nicht uneingeschränkt sonnig. Noch stünde man am Anfang des Markets, geben fast alle zu Protokoll. Zurückhaltend äusserst sich ­Oliver Niekamp, Gesamtvertriebsleiter von Stahlgruber Communication Center: „Die Chancen halte ich persönlich für ­begrenzt.“ Auch Ernesto Schmutter, Se­nior Vice President & Chief Executive Ger­many bei Ingram Micro, äussert sich eher spektisch: „Ein Massenmarkt ist heute bei B2C noch fraglich. Ähnlich wie bei 3D-TV könnte das Ganze trotz mehrerer Anläufe auch wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.“
Denn der Erfolg steht und fällt vor allem mit den passenden Inhalten, und da sieht es noch eher bescheiden aus. Die rasante Fahrt auf einer virtuellen Achterbahn, die auch auf dem MWC immer wieder auf den Demoinstallationen zu sehen war, ist inzwischen bekannt. Neben den Spielen und speziell für VR-Geräte produzierten Filmen sieht natürlich – auch wenn die Hersteller nur ungern darüber sprechen – die Pornoindustrie ebenfalls grosse Chancen in der virtuellen Welt.
Die LG 360 Cam ist mit zwei 13-MP-Weitwinkelkameras, einem 1.200 mAh Akku sowie 4 GB internem Speicher ausgestattet und nimmt 360-Grad-Videos auf.
Ein Unterschied zum 3D-Fernsehen, das bisher kein Hit war, könnte aber sein, dass die Inhalte nicht nur von professionellen Anbietern produziert werden, sondern zunehmend auch von der Community mit Hilfe von Rundum-Kameras wie der kommenden LG 360 Cam. Auch in professionellen Bereichen könnten spezielle Inhalte noch ganz andere Zielgruppen von VR erschliessen. Dazu gehören etwa virtuelle Rundgänge durch Wohnungen, Hotels oder das Probesitzen in selbst gestalteten Autos. Auch im Bildungsbereich sind neue Ansätze denkbar.
Die Möglichkeiten sind also vielfältig und das Risiko für den Handel überschaubar. Karl Trautmann, Vorstand ElectronicPartner, fasst es so zusammen: „Aktuell sind VR-Brillen noch ein Nischenartikel – aber ein attraktiver Baustein in einem innovativen Sortiment.“



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