Die Tracking-Gefahr

Überwachung führt zu Anpassung

Schon 2010 hat der damalige Google-CEO und heutige Alphabet-Vorstand Eric Schmidt gesagt: "Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, worüber du nachdenkst." Einen Rat für diejenigen, die das nicht wollen, gab Schmidt ein Jahr zuvor: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun."
Das passt zur Überwachungsregel: Wer nichts zu verstecken hat, hat nichts zu befürchten - und braucht ergo keine Privatsphäre. Was passiert, wenn Menschen in dem Wissen leben, permanent überwacht zu werden, sieht man in George Orwells "1984". Die Idee von Big Brother war nicht neu. Im Jahr 1787 entwickelte der englische Utilitarist Jeremy Bent­ham das Panoptikum: ein "perfektes" Gefängnis, das architektonisch so gebaut ist, dass die Häftlinge ihren Bewacher nicht sehen,  "augenscheinlich aber eine Omnipräsenz" des Wärters herrscht. Darauf basierend hat der französische Philosoph Michel Foucault sein Prinzip über die ständige Beobachtung, den Panoptismus, entwickelt. "Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiss, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus", schreibt Foucault. So wird er "zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung". Der Beobachtete diszipliniert sich ständig selbst und passt sein Verhalten normativen Ansprüchen an. Dabei geht es nicht darum, dass er tatsächlich überwacht wird, sondern nur um das Wissen, dass das ständig möglich ist.

"Spiral of Silence"

Ein unrealistisches Schreckensszenario? Nicht ganz. Neueste Studien aus den USA belegen die Tendenz. Seit der Veröffentlichung der Snowden-Enthüllungen kommunizieren die Nutzer auf Facebook kontroverse Inhalte nicht mehr offen. "Spiral of Silence" nennt man das: Je eher die Meinung eines Users von der der Mehrheit abweicht, desto weniger wird er sie online äussern. Auch die Suchdaten bei Wikipedia und Google haben sich geändert. Bestimmte Keywords werden deutlich weniger eingegeben - höchstwahrscheinlich nicht, weil potenzielle ­Terroristen nach dem Bekanntwerden der Massenüberwachung vorsichtig bei der Internet-Recherche waren, sondern wahrscheinlich, weil die User ihre Neugier hinsichtlich bestimmter Themen wie Bombe oder Anthrax gezügelt haben und nicht wollten, dass jemand denkt, sie würden ­etwas falsch machen. Ein Schritt zu weniger Bildung und weniger Pluralismus.
Das kann nicht im Sinn der werbungtreibenden Wirtschaft und der Tech-­Unternehmen sein, dass sich bestimmte Gruppen aus Diskussionen im Internet herausnehmen, bestimmte Meinungen nicht mehr geäussert werden und der Neugier nach bestimmten Begriffen nicht mehr nachgegangen werden kann. Und auch wenn die technologischen Möglichkeiten der Profilbildung oder der Zielgruppeneinschränkung immer genauer werden: Es ist fraglich, wie aussagekräftig sie sind, wenn viele Themen online nicht mehr angesprochen werden.
Derzeit scheinen die Fronten verhärtet zu sein. Internet-Aktivisten versuchen die Kommerzialisierung des Internets rückgängig zu machen, die Wirtschaft hält nicht viel von deren Idealen. "Wir müssen uns eine Lösung überlegen, die wirtschaftlich sinnvoll, aber immer noch für alle ­Parteien gerecht ist", sagt Frank Herold, Head of Publisher Business DACH bei One by AOL: Publisher. "Nicht alles, was möglich ist, ­sollte auch gemacht werden. Es ist eines, Cookies fürs Frequency Capping einzusetzen, oder aber ­Erna Müller genau identifizieren zu können." Seine ­Lösung, um den für ihn schon deutlich sichtbaren Reaktanzen entgegenzuwirken: Aufklärung, "damit die Leute wissen, welche Daten wofür gesammelt werden". Im nächsten Schritt müsse man dann dem User natürlich noch die Wahl lassen: "Aufklärung ohne Wahlmöglichkeit bringt nichts."

"Einfache Logik" der datenbasierten Ansätze

Ralf Heller, Geschäftsführer der Agentur Virtual Identity, ist nicht der Meinung, dass viele Daten zwingend eine bessere Kampagne ergeben. "Datenbasierte ­Online-Marketing-Ansätze sind oft von recht einfachen Logiken bestimmt: Man hat in einem Shop ein Produkt angesehen und bekommt in der Folge auf allen besuchten Websites Banner mit eben diesem Produkt angezeigt, selbst wenn man das Produkt schon bestellt hat." Trotzdem ist Online-Kommunikation, die nicht auf Daten setzt, äusserst selten. Wenn, dann sieht man sie bei Parteien oder Institutionen. So wurde für die Wahlkampfkam­pagne der Grünen 2013 zum Beispiel eine Strategie entwickelt, die ohne nutzer­basierte Cookies auskam. Dass man auch als Publisher Werbung ohne trackende Banner schalten kann, beweist das Portal Netzpolitik.org. Allerdings gibt es laut Gründer Markus Beckedahl Kunden, die an dieser Art der Werbung kein Interesse haben. Ralf Heller glaubt aber, dass Tracking nicht zwingend nötig ist, um ein Produkt mit Erfolg zu verkaufen: "Wenn Unternehmen die Kommunikation für ­ihre Zielgruppen nützlich gestalten, wird sich das Nützliche in der Zielgruppe rumsprechen. Das geht von alleine, ganz ohne datenbasierte Botschaftspenetration."
Denn welchen Effekt das ganze Datensammeln am Ende hat, ist nicht klar. "Wie viel es wirklich bringt, um Streuverluste zu vermeiden und den ROI zu erhöhen, lässt sich pauschal nicht sagen", gibt auch ­Herold zu. Und im Zweifel kann ein intrinsisches Marketing sogar das Gegenteil ­bewirken und Kunden vergraulen, wie die Target-Geschichte zeigt.



Das könnte Sie auch interessieren