Roadmap 24.02.2017, 11:15 Uhr

Keine Angst vor der digitalen Transformation

Die meisten IT-Entscheider schrecken bei Veränderungen vor der Komplexität zurück. Mit einer strukturierten Roadmap lassen sich die Herausforderungen der Digitalisierung meistern.
(Quelle: Duncan Andison / Shutterstock.com)
Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung treiben die Komplexität in neue Dimensionen. Schon heute ist laut dem Institut für Beschäftigung und Employability IBE der damit verbundene Veränderungsdruck die grösste He­rausforderung für Manager. Um die zunehmende Komplexität zu absorbieren sind neue Managementmodelle notwendig, die agiler sind und dezentral die gesamten Wissenspotenziale der Unternehmung erschliessen können.
Genauso verhält es sich mit erfolgreichen Digitalisierungsszenarien: Kundenintegration, Absatzkanal-Sharing, Crowdsourcing oder Künstliche Intelligenz für die Qualitätssicherung sind nur eine kleine Auswahl an Beispielen von sehr mächtigen Konzepten, die mit herkömmlichen Software-­Lösungen wie ERP höchstens zu einem kleinen Teil zugänglich sind. Als IT-Führungskraft steht man daher vor der Aufgabe, Business Intelligence (BI) mit Digital Intelligence (DI) zu kombinieren, denn nur so lässt sich das digitale Potenzial zum Nutzen des Unternehmens ausschöpfen.
“„Halten Sie das erste Digitalisierungsprojekt möglichst klein und geben Sie dem Team die Chance, sich einzuspielen.“„
Stefan Boller
Partner der
PROCOMM IT Concepts AG
Die Digitalisierung ist einerseits ein wesentlicher Treiber der Komplexität, andererseits aber auch Teil der Lösung. Durch die geschickte Nutzung der folgenden Strategien und Massnahmen können IT-Führungskräfte den Herausforderungen der Digitalisierung besser begegnen und die sich dadurch eröffnenden Chancen zum Wettbewerbsvorteil für ihr Unternehmen machen. Die so entwickelten Digitalisierungsszenarien sind zudem eine ideale Basis für die Präsentation ihrer Digitalstrategie bei der Geschäftsleitung, dem Verwaltungsrat und den Investoren.

Voraussetzungen: BI und DI

Eines vorweg: Mit der Einführung eines einzelnen, noch so leistungsfähigen Systems ist es nicht getan. Bevor eine wirksame und auch nachhaltige Entwicklung stattfinden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu zählt einerseits das Wissen über das Unternehmen selbst (Business Intelligence, BI) und – in direkter Verbindung dazu – das Wissen um die Möglichkeiten der Digitalisierung (Digital Intelligence, DI). Die Betonung liegt hier auf der direkten Verbindung, denn nur durch die Kombination beider „Intelligenzen“ lassen sich die enormen Potenziale nutzen. Diese elementare Kombination entspricht der Bereitschaft eines Unternehmens zur Digitalisierung, der sogenannten Digital Readiness.
Business Intelligence (BI) bezeichnet dabei das Wissen über das Unternehmen und dessen Umfeld. Dies umfasst Themengebiete wie Strategie, Managementmodell, Geschäftsmodell und ganz besonders das Wissen über die Geschäftsprozesse. Dieses Wissen ist in den Unternehmen vorhanden oder kann beschafft werden.
Die Digital Intelligence (DI) ist vereinfacht ausgedrückt die Kenntnis der Technologien, Methoden und Strukturen, die die Umsetzung von Digitalisierungsszenarien ermöglichen. Digital Intelligence umfasst die Schritte „Analyse bestehender Prozesse“, „Entwicklung von Digitalisierungs­szenarien“, „Entscheidung“ und „Implementierung“.

Strategie: Bottom-up

Digitalisierung in der Praxis: Der Kreis zeigt die Strategie für die Digitalisierung im Unternehmen.
Quelle: PROCOMM IT Concepts AG
Die Komplexität der Unternehmen ist im Allgemeinen zu gross für einen Top-down-Ansatz. Ein solcher hätte ausserdem den Nachteil, dass mitunter signifikante Potenziale an der Basis unerkannt bleiben würden. Um das Potenzial des gesamten Unternehmens einzubringen – und damit sind insbesondere auch sämtliche Mitarbeiter mit deren gesamter Innovationskraft gemeint –, ist daher ein „Bottom-up“-Ansatz zu empfehlen, bei dem die einzelnen Aktivitäten eines Prozesses analysiert werden. Dieser Ansatz geht davon aus, dass in jeder Aktivität auch Potenzial steckt. Das ist einleuchtend, weil einerseits die Digitalisierung für praktisch alle Tätigkeiten neue Möglichkeiten bietet und weil ausserdem immer mehr Dienste aus der Cloud zur Verfügung stehen.
Jede einzelne der heutigen Aktivitäten wird somit durch die Analyse zu einem potenziellen Spender von Innova­tion – oder anders ausgedrückt: zum Ideenlieferanten für Digitalisierungsszenarien. Aus der Summe der durch die Analyse gesammelten Ideen werden anschliessend zusammen mit dem Digital-Intelligence-Architekten Digitalisierungsszenarien entwickelt, die sich durch verschiedene Merkmale voneinander unterscheiden. Diese Szenarien bilden den Entscheidungsraum für das Management und die Grundlage für die Umsetzungsstrategie.

Analyse bestehender Prozesse

Ein für die Wertschöpfung wichtiger Geschäftsprozess wird in Absprache mit dem Management ausgewählt, um einen überschaubaren Betrachtungsradius zu erhalten. Meistens handelt es sich zuerst um einen Prozess im Vertrieb, der massgeblich zum Umsatz beiträgt. Die Analyse des ausgewählten Prozesses erfolgt nach dem aus der Betriebswirtschaft bekannten Verfahren der Prozesskostenrechnung. Allerdings in leicht abgeänderter Form: Ziel ist nicht die Kostenverteilung, sondern Ideen für Digitalisierungsszenarien zu generieren, die zur Umsatz­entwicklung und EBIT-Verbesserung beitragen sollen. Bei dieser Prozesskostenanalyse werden sämtliche Aktivitäten im Prozess detailliert betrachtet und ausgemessen. Kosten, Ressourcenbedarf, Durchlaufzeit und Anzahl der Durchführungen gehören zu den Untersuchungsergebnissen. Da jede einzelne Aktivität im Geschäftsprozess das Potenzial hat, als Lieferant für eine Innovationsidee zu dienen, ist die Frage nach den Digitalisierungsmöglichkeiten auch entsprechend für alle Aktivitäten zu beantworten.
Je detaillierter die Prozesse mit den darin stattfindenden Aktivitäten analysiert werden, desto mehr Innovationsideen und Verbesserungsmöglichkeiten werden sichtbar.

Digitalisierungsszenarien

Auf der breiten Basis der Ideen, die sich aus der Analyse bestehender Prozesse und der Digital Intelligence ergeben, entwickelt der DI-Architekt verschiedene Digitalisierungs­szenarien. Diese bestehen essenziell aus der Beantwortung folgender Fragen:
  • Was wird digitalisiert (welche Aktivität)?
  • Liegt der Fokus mehr auf der Umsatzsteigerung oder mehr auf der betrieblichen Effizienz (EBIT)?
  • Wo und durch wen findet die Ausführung künftig statt?
  • Wie hoch sind die Kosten und das Risiko der Massnahme?
  • Welche Vorteile (Umsatz, Kosten, Agilität, andere Wett­bewerbsvorteile) bringt das Szenario?
Häufig sind allein die Kostenvorteile der Szenarien derart signi­fikant, dass sich die Massnahmen lohnen. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die sich daraus ergebenden möglichen Wettbewerbsvorteile.
Die Digitalisierungsszenarien lassen sich in vier Kategorien einteilen. In der Praxis werden diese auch häufig kombiniert.

1. Interne Verschiebung

Durch die Vernetzung können die meisten Aktivitäten jederzeit an anderen Stellen bearbeitet werden. Damit lassen sich Kapazitätsengpässe beseitigen und Skaleneffekte erzielen. Ausserdem verkürzen sich bei internen Verschiebungen häufig auch die Meldewege, sodass die Fehlerquoten reduziert werden können.
Beispiel Debitorenbuchungen: In einer Mobilanwendung für Service-Techniker bucht der Service-Techniker den Auftrag direkt von seinem Mobiltelefon in die Debitorenbuchhaltung, was vorher über einen Service-Bericht auf Papier zuerst in die zentrale Verwaltung übermittelt werden musste, um dann dort bearbeitet zu werden. Die Vorteile der Verschiebung des Erfassungsvorgangs direkt zum Service-Techniker liegen auf der Hand: Aufwand und Fehlerquellen werden reduziert und der Umsatz kann innerhalb kürzerer Zeit nach der Leistungserbringung geltend gemacht werden.

2. Vertikale Integration

Bei der vertikalen Integration werden die Kunden mit dem liefernden Unternehmen vernetzt. Das Konzept führt zur Vereinfachung des Bestellablaufs für den Kunden und resultiert dadurch in einer höheren Kundenbindung, Zahlungsbereitschaft und Marge und einem höheren Ertrag.
Praxisbeispiel Bauzulieferbranche: Ein bekannter Sanitärtechnikkonzern in der Schweiz liefert die führende Software für die Planungsaufgaben der Ingenieurbüros, obwohl die Planung keineswegs zum Dienstleistungsumfang gehört. Die Software umfasst die Dimensionierung der sanitären Anlagen bis bin zu hochkomplexen hydraulischen Berechnungen und ist somit von hohem Wert für den Planungsingenieur. Daher ist die Software auch tatsächlich breitflächig im Einsatz und stellt für viele Anlagen die Basis der Ausschreibungen bereit. Die Kanalisierung in Richtung der Produkte des Sanitärtechnikkonzerns ist so vorgegeben. Das betreffende Unternehmen ist folglich Marktführer und kann eine entsprechende Umsatzentwicklung verbuchen.
Praxisbeispiel Dienstleistungssektor: Bei den grossen digitalen Unternehmen wie Google, Microsoft, Apple, Amazon oder Face­book kommen täglich Tausende neuer oder geänderter Texte der Bedienoberflächen in die Übersetzung, zum Beispiel „Wie sagt man ,like‘ auf Burmesisch?“. Diese Texte werden nicht selten in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Ein auf genau diese Art von Übersetzungen spezialisiertes Unternehmen bietet bereits heute eine automatisierte Integra­tion für die Übersetzungsdienstleistung an, sodass die Kommunikation rein digital erfolgt und der Status fortwährend transparent ist. Die Kundenbindung, Zahlungsbereitschaft und somit die Marge erreicht hier durch die Digitalisierung neue Massstäbe. Dieses Konzept wird auch als Customer Intimacy Strategy bezeichnet.

3. Crowdsourcing

Crowdsourcing vereint das Wissen, die Kreativität oder Leistungsfähigkeit vieler zu einer Teilnehmergruppe. Die Crowdsourcing-Plattform Qmarkets (www.qmarkets.net) bietet zum Beispiel Unterstützung bei einer immensen Bandbreite von Aufgabenstellungen, die von der Entwicklung von Marketingkonzepten bis zur Gestaltung von Prozessoptimierungen reicht. Bereits heute stehen dort über 2 Millionen engagierte Menschen rund um den Globus bereit, sich einer Aufgabe anzunehmen.

4. Automatisierung

Die Automatisierung ist keineswegs ein neues Konzept. Dennoch können damit heute und sicherlich auch noch in Zukunft immer wieder sehr attraktive Potenziale erschlossen werden. Mit der bereits verfügbaren Technologie lassen sich mitunter äusserst komplexe Vorgänge zu attraktiven Bedingungen automatisieren.
Praxisbeispiel Jalousiehersteller: Die Preisberechnung für Angebote von Jalousien ist relativ aufwendig, da viele Fak­toren wie Untergrund, Befestigung, Abmessungen, Gewicht oder Antrieb berücksichtigt werden müssen. Ausserdem findet die Berechnung sehr häufig statt, da kaum ein Fenster gleich gross ist wie das andere. Vor der Einführung des Digitalisierungsszenarios wurde diese Preisberechnung manuell anhand von Tabellen durchgeführt. Nach der Bestellung waren weitere, noch wesentlich komplexere Berechnungen für die Fertigungsaufträge nötig. Dort wurden alle material- und fertigungsrelevanten Parameter errechnet wie Mass­zugaben beim Zuschnitt, Farbmengen oder Lochabstände.
Das eingeführte Digitalisierungsszenario umfasst einen Service, der die Berechnungen sowohl für die Preise in der Angebotsphase als auch die Fertigung vollautomatisch durchführt. Die Nutzung erfolgt über einen Enterprise Service Bus von Smartphones, über Internet sowie integriert ins ERP-System am Arbeitsplatz. Das betreffende Unternehmen sparte so jährlich mehr als 1 Million Euro.

Entscheidung: Vorteile & Risiken

Die Digitalisierungsszenarien bilden die Entscheidungsgrundlage für Management sowie Verwaltungsrat und sollten in entsprechend klarer Form dargestellt werden. Die Entscheidung stützt sich dabei insbesondere auf die beiden Säulen Wirtschaftlichkeit der Massnahme (EBIT-Potenzial) und Strategiekonformität (Wettbewerbsvorteile).
Da bereits bei der Analyse die Methode der Prozesskostenrechnung eingesetzt wird, sind die bisherigen Kosten relativ genau bekannt und aktuell gemessen. Die Kosten nach der Einführung der Massnahme können mit Simulationsrechnungen ebenfalls gut angenähert werden. Die wirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen befinden sich somit auf einem selten anzutreffenden komfortablen Niveau.
Etwas schwieriger gestaltet sich die Abschätzung der Risiken. Die technischen Risiken können zwar durch einen erfahrenen DI-Architekten relativ gut beschrieben werden, doch um die kulturellen Einflüsse und die damit verbundenen Risiken abschätzen zu können, ist nach wie vor viel Fingerspitzengefühl vom Management erforderlich.

Implementierung: Erfolgsfaktoren

Für die erfolgreiche Implementierung von Digitalisierungsszenarien sind im Wesentlichen drei Faktoren ausschlag­gebend: ein starkes, interdisziplinäres Team mit umfassendem BI- und DI-Wissen, eine klare Definition des Projektumfangs und der Einbezug der betroffenen Mitarbeiter.
Das Team: Der Erfolg der Implementierung hängt neben dem geschickt gewählten Digitalisierungsszenario stark davon ab, wie zielsicher die Umsetzung stattfindet. Hierzu wird ein Team von Spezialisten benötigt. Die wichtigsten Rollen und Kompetenzen beinhalten dabei:
  • Projektleiter mit Erfahrung mit interdisziplinären Projekten
  • Digital-Intelligence-Architekt mit profundem Verständnis der Gegebenheiten in Unternehmen sowie umfassender Kenntnis der Möglichkeiten der Digitalisierung
  • Klare Struktur der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten (Change Advisory Board, Lenkungsausschuss, Testmanagement)
Projektumfang: Aus unserer Praxiserfahrung empfehlen wir, den Umfang für das erste Digitalisierungsprojekt möglichst klein zu halten, damit Erfahrungen zu sammeln und dem Team die Chance zu geben, sich einzuspielen. Als Faust­regel empfehlen wir eine geplante Projektlaufzeit von weniger als sechs Monaten.
Einbezug der Mitarbeiter: Die Akzeptanz bei den betroffenen Mitarbeitern ist ebenfalls ein Schlüsselfaktor für den Erfolg. Diese sollten bereits ab Projektbeginn bei der Ausgestaltung der Details einbezogen werden, um später auftretende Widerstände zu vermeiden. Für die neu entwickelten Lösungen empfiehlt sich das Konzept des User Acceptance Tests (UAT).

Fazit: die grosse Chance

Die digitale Unternehmensentwicklung ist interdisziplinär und von Herausforderungen geprägt. Eine erfolgreiche Digi­talisierungsstrategie basiert auf drei Eckpfeilern: Business Intelligence, Digital Intelligence und der Expertise, konkrete Digitalisierungsszenarien für das eigene Unternehmen zu entwickeln und auch umzusetzen.
Gerade für CIOs und IT-Entscheider ist die digitale Unternehmensentwicklung eine riesige Chance, um für das Unternehmen noch wertvoller zu werden als bisher. IT-Entscheider verfügen über die idealen Voraussetzungen, um das digitale Potenzial zum Nutzen des Unternehmens auszuschöpfen. Sie haben sowohl das nötige IT-Know-how als auch die erforderliche Managementerfahrung. Beides sollten sie nutzen.




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