Cloud-Konzept der EU 03.12.2019, 07:04 Uhr

Gaia-X: Geteilte Reaktionen auf europäische Cloud-Infrastruktur

Eintagsfliege oder der erste Schritt, um Europa in die digitale Unabhängigkeit zu führen? Die Meinungen zum Projekt Gaia-X gehen weit auseinander.
(Quelle: shutterstock.com/Vadym Pasichnyk)
Bislang ist es nur ein Konzept: Auf 56 Seiten präsentieren das Bundeswirtschafts- und das Bundesforschungsministerium ihre Vorstellung davon, wie eine sichere und vernetzte Dateninfrastruktur für Europa geschaffen werden könnte. Der vorläufige Projektname dafür: Gaia-X.
Das Projekt soll als "Wiege eines offenen und transparenten digitalen Ökosystems dienen", erklärt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI). Das BMWI hatte Gaia-X beim Digital-Gipfel Ende Oktober in Dortmund vorgestellt.
Vieles spricht dafür, dass eine stärkere "digitale Souveränität" Europas grundsätzlich sinnvoll ist. Schliesslich brauchen Unternehmen und Behörden eine sichere und zuverlässige Cloud-Umgebung, weil mit der digitalen Transformation immer mehr Daten in die Wolke wandern.
Experten halten eine europäische Cloud unter politischen wie auch rechtlichen Gesichtspunkten für sinnvoll, aber nicht aus technischer Sicht. Denn einerseits könnte sie die Abhängigkeit von den grossen US-amerikanischen Public-Cloud-Anbietern, den sogenannten Hyperscalern, verringern. Hyperscaler ermöglichen im Cloud Computing eine massive Skalierung und ein Maximum an Leistung. Allgemein werden die grossen amerikanischen Cloud-Anbieter Amazon, Microsoft und Google als Hyperscaler bezeichnet. Andererseits haben diese Unternehmen einen riesigen technischen Vorsprung.
Im "Hyperscale-IaaS-Quadrant" bewertet der Report "Public Cloud, Solutions und Services 2019" von ISG (Information Services Group) Unternehmen, die virtuelle Compute-Ressourcen und Software auf einer öffentlichen Cloud-Plattform bereitstellen.
Quelle: ISG, "Public Cloud - Solutions und Services 2019"
Amazon, Microsoft, Google und IBM dominieren den Cloud-Markt. Das zeigt beispielsweise die aktuelle Studie "Public Cloud - Solutions & Services 2019" des Technologie-Marktforschungs- und Beratungsunternehmens ISG (Information Services Group). Die Autorinnen und Autoren konstatieren in der Beschreibung von "Das Projekt Gaia-X", dass europäische Alternativen keine vergleichbare Marktkapitalisierung, Skalierbarkeit und Anwendungsbreite bieten.
Gaia-X soll die Rahmenbedingungen für eine europäische Cloud schaffen und die Spielregeln dafür festlegen. Noch ist vieles dazu sehr vage. Das sind die Antworten zu den wichtigsten Fragen:

Was ist das Konzept des Projekts?

Diese Broschüre skizziert die Pläne Gaia-X.
Quelle: BMWI, Broschüre "Das Projekt Gaia-X"
Gaia-X soll eine leistungsfähige, sichere und vertrauenswürdige Dateninfrastruktur für Europa schaffen. "Wir müssen unsere strategische Handlungsfähigkeit erhalten, um auf Dauer digital frei und selbstbestimmt agieren zu können. Wir müssen dafür auch im Bereich der Daten digital souverän sein", postulieren die Autoren in der Broschüre.

Wer hat an Gaia-X mitgearbeitet?

Verbände, Unternehmen und Ministerien. Die Broschüre listet knapp 100 Personen auf, die am Konzept mitgearbeitet haben, darunter auch der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier, und die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek. Verschiedene Arbeitsgruppen beschäftigen sich im Rahmen des Projekts mit unterschiedlichen Schwerpunktthemen wie "Software und Technologie“ oder "Zertifizierung und Lizenzierung“.

Welche Ziele verfolgt Gaia-X?

Dezentrale Infrastrukturdienste, also Hosting-Anbieter und Rechenzentren, insbesondere Cloud- und Edge-Instanzen, sollen zu einem homogenen System verknüpft werden. Das soll die Skalierungsfähigkeit und die Wett­bewerbsposition von europäischen Cloud-Anbietern stärken. Die Kunden von Cloud-Dienstleistungen, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, sollen eine Alternative zu den grossen Public-Cloud-Anbietern erhalten.

Wer kann mitmachen? Nur europäische Firmen?

Jeder Cloud-Dienstanbieter kann durch den Einsatz der Gaia-X-Technologie und deren Referenzarchitektur zu einem Knoten des Netzwerks, einem sogenannten Gaia-X-Knoten, werden. Das Projekt ist offen für weitere Partner aus Deutschland und Europa. Da Wertschöpfungsketten in der Industrie global angelegt sind, sei das Projekt auch offen für aussereuropäische Unternehmen und Organisationen, teilte das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage von INTERNET WORLD BUSINESS mit, "sofern sie unsere Ziele und Werte der Datensouveränität und Datenverfügbarkeit teilen“.

Welche Aufgaben hat Gaia-X?

Gaia-X soll Folgendes leisten: eine Referenzarchitektur für die vernetzte Dateninfrastruktur erarbeiten, Standards definieren, Kriterien für Zertifizierungen und Gütesiegel vorgeben. Die Organisation soll Regeln festlegen. Dazu gehören, die Teilnahmebedingungen und Datenverträge zu formulieren und die Teilnehmer zu zertifizieren. Und sie soll schliesslich den Betrieb koordinieren.

Wie wird das Projekt in eine feste Struktur überführt?

Das ist noch nicht klar. Die Projektteilnehmer diskutieren noch darüber, in welche Form Gaia-X "gegossen" werden soll. Die Broschüre spricht von einer "Organisation mit Rechtsfähigkeit“. Eine Möglichkeit ist die Gründung einer "Europäischen Genossenschaft". Das BMWI erklärt, dass es eine zügige Gründung im Frühjahr 2020 anstrebe.

Welche Pläne gibt es für die Architektur?

Jeder Knoten der vernetzten Infrastruktur bildet eine eigenständige Einheit, die eindeutig identifizierbar und erreichbar ist. Eine Selbstbeschreibung vermittelt Spezifika und Fähigkeiten der einzelnen Knoten. Sie enthält Aussagen zum Ort der Speicherung und der Verarbeitung der Daten, zu den verwendeten Technologien, zur Rechen- und Speicherleistung sowie zur bereitgestellten Funktionalität. Aus der Selbstbeschreibung soll beispielsweise hervorgehen, ob die Datenspeicherung im Inland oder zumindest im Geltungs­bereich der EU-Datenschutzgrundverordnung erfolgt.
Ausserdem soll die Selbstbeschreibung Informationen über die Echtzeitfähigkeit, zum Preismodell, zum zertifizierten Schutzgrad des Knotens und zur Energieeffizienz liefern. Die Knoten können eine Public oder eine Private Cloud oder ein Edge-Knoten sein.

Wer kann davon profitieren und wie?

Die Broschüre stellt Beispiele aus den Bereichen Industrie 4.0, Finanzwirtschaft, dem Gesundheitswesen, der öffentlichen Verwaltung und der Wissenschaft vor.

Kosten? Budget? Fördermittel?

Zu den Kosten, zum Budget und zu den Fördermitteln äussert sich das BMWI auf Anfrage nicht. Das Projekt solle aber hauptsächlich von der Wirtschaft getragen werden, teilt das Wirtschaftsministerium mit. Angaben zu den voraussichtlichen Startkosten könnten derzeit noch nicht gemacht werden. Geklärt werden müsse auch noch, wie hoch die laufenden Kosten für Gaia-X sein werden, wie mögliche Gebühren- oder Geschäftsmodelle aussehen und ab wann sich Gaia-X finanziell selbst tragen soll.
Mit Hinweis auf die Haushaltsverhandlungen im Parlament sagt das BMWI auch nichts dazu, welches Budget es für Gaia-X eingeplant hat oder ob Unternehmen und Verbände Fördermittel für Gaia-X beantragen können.

Wie ist der Zeitplan? Wann soll es losgehen?

Die Organisation soll im Frühjahr 2020 gegründet werden. Im zweiten Quartal 2020 sollen erste Tests des technischen Konzepts erfolgen (Proof of Concept). Ende des Jahres 2020 soll bereits der Live-Betrieb mit ersten Anwendern und Anbietern beginnen.

Das Bundeswirtschaftsministerium erklärt, dass das Interesse an Gaia-X aus Industrie und Wirtschaft gross sei. Nach der Veröffentlichung hätten viele Unternehmen Interesse an einer Mitarbeit bekundet. Nun sollen weitere Partner in Europa gewonnen werden. Frankreich und Deutschland wollen den Aufbau einer europäischen, sicheren Dateninfrastruktur gemeinsam vorantreiben und die Ergebnisse der Zusammenarbeit im Frühjahr 2020 vorstellen. Bundes­wirtschaftsminister Peter Altmaier will gemeinsam mit der französischen Regierung  die Einzelheiten des Projekts besprechen und dann an Regierungen und Unternehmen in anderen europäischen Ländern herantreten, damit sie sich ebenfalls beteiligen. "Diese Infrastruktur wird dazu beitragen, dass wir unsere digitale Souveränität wiederherstellen“, ist der Bundesminister überzeugt.

Gemischte Reaktionen in der Branche

Doch es gibt auch lebhafte Kritik an Gaia-X. Bemängelt wird, dass das Konzept noch sehr schwammig sei. Stefan Ried, Principal Analyst und Practice Lead IoT beim Beratungsunternehmen Crisp Research, einem Teil der Cloudflight-Unternehmensgruppe, befürchtet, dass Gaia-X ein Flop zu werden drohe.
Die drei Hyper­scaler Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google Cloud Platform hätten heute schon so einen grossen Vorsprung, dass es wenig sinnvoll sei, gegen sie in den Wettbewerb zu treten (die ausführlichen kritischen Einwände im ausführlichen Kommentar von Stefan Ried).
Er ist der Ansicht, dass Gaia-X nicht ­lokale, kleine Rechenzentren unterstützen sollte, weil das unwirtschaftlich sei. "Grundsätzlich sprechen die Gaia-X-Macher viel zu wenig mit den Cloud-Experten der Branche", kritisiert Ried von Crisp Research. Er bemängelt zudem, dass man bei Gaia-X "nichts aus den Deutschland-Cloud-Flops gelernt" habe. Kunden seien offenbar nicht bereit, für den Schutz ihrer Daten nach europäischem Recht mehr zu bezahlen.
Hintergrund: Microsoft hatte Ende 2015 das Modell einer Deutschland-Cloud vorgestellt. Im August 2018 hatte Microsoft in einem Blog-Post mitgeteilt, die Microsoft Cloud Deutschland einzustellen.
Nico Lumma, Managing Partner des Next Media Accelerators in Hamburg, kommentiert auf Gründerszene.de, dass eine europäische Cloud eine Kopfgeburt sei, die nicht überleben werde. Er erinnert an das Projekt "Theseus“, das im Dezember 2006 beim ersten deutschen IT-Gipfel als semantische Suchmaschine angekündigt worden war. Es seien viele Fördergelder geflossen, um eine europäische Antwort auf Google an den Start zu bringen - jedoch mit wenig Erfolg. Gaia-X werde es ähnlich ergehen, lautet seine Prognose: "Auf dem nächsten ­Digitalgipfel der Bundesregierung werden wir von zwei, drei Umsetzungen aus der Praxis erfahren, von denen noch niemand gehört hat und die für die beteiligten Unternehmen kaum relevant sind. Danach wird Gaia-X keine Rolle mehr spielen.“

Befürworter verweisen auf digitale Souveränität

Es gibt auch Befürworter einer europäische Cloud- und Dateninfrastruktur. Der Internet-Verband Eco hat sich dazu bei rund 500 Unternehmen umgehört. Das Ergebnis der repräsentativen Umfrage: 80 Prozent der Manager sind der Ansicht, dass digitale Souveränität in Form einer leistungsfähigen und sicheren digitalen Infrastruktur entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland sei. Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender des Eco, fordert, dass Europe einen "intelligenten Mix an digitalen Infra­strukturanbietern“ brauche: "Datensouveränität und Datenzugang sind ­wesentliche Erfolgsfaktoren für eine datengetriebene Wirtschaft." Der Schlüssel dafür seien leistungsfähige Rechenzentren.
Der Verband der IT-Wirtschaft Bitkom bezieht in einem Eckpunktepapier Stellung zu einer souveränen Cloud- und Datenstruktur in Deutschland und Europa. Im Kern gehe es bei der Diskussion um Gaia-X um die Frage, "wie wir uns in der digitalen Welt die Fähigkeit zu selbst­bestimmtem Handeln bewahren", so der Bitkom. Souverän heisse, in zentralen Technologiefeldern und Diensten über eigene Fähigkeiten auf Spitzenniveau zu verfügen und selbstbewusst zwischen ­Alternativen entscheiden zu können. ­Lukas Klingholz, Referent Big Data und Künstliche Intelligenz im Bitkom, findet es gut, dass die Bundesregierung die Datensouveränität als Handlungsfeld identifiziert hat, meint aber: "Die eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst."
Um den Aufbau von Rechenzentren und Gigabit-Netzen voranzutreiben, brauche es eine strategische Standortpolitik. Dazu zähle beispielsweise, die Strompreise für Rechenzentren zu senken. Dass sie in Deutschland höher sind als in anderen Ländern, bedeute einen Nachteil. "Ein wichtiger Schritt wäre es, Rechenzentren von der EEG-Umlage zu befreien", meint Klingholz. Zudem müssten die Rahmenbedingungen für Wachstumsfinanzierung und Risikokapital verbessert und der digitale europäische Binnenmarkt vollendet werden. Denn er bilde die Grundlage für das Wachstum und die Skalierung von Gaia-X.

Klare Kriterien

Für die Teilnahme an Gaia-X müsse es klare Kriterien geben, fordert der Bitkom. "Diese Kriterien sollen Datensouveränität, digitale Souveränität und die Sicherheit von Anwendungen garantieren, die im Rahmen von Gaia-X angeboten werden“, sagt Klingholz. Die Herkunft und der Hauptsitz von Anbietern sollte kein Entscheidungskriterium sein, solange die ­Anbieter die noch zu definierenden Kriterien einhalten und garantieren.
Rainer Sträter, Head of Global Platform Hosting beim Hosting-Anbieter Ionos, ist der Ansicht, dass vor allem kleine und mittelständische Unternehmen von Gaia-X profitieren können, weil sie selten das Know-how hätten, um eine eigene Server-Infrastruktur sicher zu betreiben (mehr dazu in diesem "Pro und Kontra" zu Gaia-X).
Gleichzeitig sei bei ihnen das Misstrauen gegenüber den dominanten US-Anbietern gross. Er verweist auf den US-amerikanischen Cloud Act. Dieses Gesetz ermöglicht es US-Behörden, von US-Anbietern Zugriff auf Daten zu verlangen, die auf Servern ausserhalb der USA liegen.
Sträter geht davon aus, dass jeder Wirtschaftszweig von Gaia-X profitieren werde, auch der Online-Handel. "Beim Online-Handel geht es um den Umgang mit sensiblen Daten, den Zahlungsinformationen von Kunden. Hier hat eine Plattform, die auf europäischen Datenschutzstandards basiert, einen Wettbewerbsvorteil.“
Für den Online-Handel wäre ein Zusammenspiel aus Private und Public Cloud effektiv, meint Ried von Crisp Research: Der Katalog-Teil einer Handelsplattform, der etwa 80 Prozent der Performance braucht, sollte auf einem Public-Cloud-Hyperscaler liegen. Nur die Transaktionsprozesse sollten auf einer Infrastruktur mit hohem Datenschutz liegen. "Damit beide optimal als hybride Multi-Cloud zusammenspielen, muss der private Teil am besten an der gleichen Location liegen, aber von einem lokalen Service Provider betrieben werden.“

Noch viele Fragen ungeklärt

Grundsätzlich sei alles sinnvoll, was zu einer weiteren Digitalisierung des Standorts Deutschland beitrage, kommentiert Marco Revesz, Teamleiter Cloud und Automation bei Internetx, einem Anbieter von Domains, Cloud- und Server-Produkten. Bisher hätten schon viele Unternehmen versucht, sich als deutsche Alternativen zu den Hyperscalern zu positionieren, gelungen sei es bis dato aber noch keinem.
Damit Gaia-X erfolgreich wird, müssten mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung erfolgen, meint Revesz. Denn Gaia-X werde nur möglich sein, wenn Menschen mit entsprechendem Know-how "lokale“ Innovationen entwickeln und vorantreiben. "Wir betrachten das Projekt aktuell aus einer gesunden Distanz“, erklärt Revesz. Viele Fragen seien derzeit noch ungeklärt, findet der Cloud-Experte: "Auch bei Gaia-X wird der Markt entscheiden, ob ein Bedarf dafür existiert und ob sich solch ein Projekt nachhaltig lohnen wird.“



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