EU-Exit der Briten 24.06.2016, 10:28 Uhr

Der Brexit und die Folgen für die Digitalwirtschaft

Die Briten haben sich für den Brexit und damit für einen Austritt aus der EU entschieden. Für die Digitalwirtschaft und das Import- und Export-Geschäft ist der Exit problematisch.
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Brexit (Britain und Exit) ist nicht mehr nur ein Wort, sondern seit dem 23. Juni 2016 Realität. Die Briten haben sich in einem Referendum mit denkbar knappen 51,9 Prozent für einen Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union (EU) entschieden. Die Brexit-Befürworter konnten vor allem in England und in Wales viele Stimmen einsammeln, vor allem ältere Bürger sprachen sich gegen die EU aus.
Ausstieg: Die Mehrheit der Briten hat beim Referendum für den Brexit gestimmt
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Neben der Ernüchterung bleibt die Frage: Was nun? Schon jetzt erlebt das Pfund den grössten Kurssturz der Geschichte und rauschte auf 1,33 US-Dollar herunter - der tiefste Stand seit 30 Jahren. Natürlich stürzten auch die Kurse der Banken: Der Dax startete schon am Montag mit einem Minus von knapp zehn Prozent. An der Börse in (der ehemaligen britischen Kronkolonie) Hongkong ging es prozentual zweistellig abwärts. Um es kurz mit den Worten des Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel (SPD) zu sagen: "Damn! Ein schlechter Tag für Europa".
Auch wenn keiner die genauen Folgen jetzt schon voraussehen kann - es gibt noch zu viele Unabwägbarkeiten, Stichwort Schottland - steht doch eines fest: Der Brexit wird negative Folgen für die EU haben. (Noch-)Premier David Cameron etwa erwartete schon im Vorfeld "ein Jahrzehnt der Ungewissheit", laut EU-Ratspräsident Donald Tusk wird eine Neuordnung sieben Jahre dauern. Ein Aspekt dabei sind die ökonomischen und wirtschaftlichen Konsequenzen für Europa, die natürlich den Offline- wie Online-Handel einschliessen.

GB als drittwichtigster Handelspartner von Deutschland

Bereits James Knightley, Leitender Ökonom bei der Bank ING in London, warnte: "Der Brexit würde Risiken für Handel und Investitionen mit sich bringen." Und auch Cameron glaubte, ein Austritt könnte "Jobs kosten, und er könnte bedeuten, dass Unternehmen aus dem Ausland nicht in Grossbritannien investieren".
Genau das ist das Problem: Der Handel mit der EU ist für Grossbritannien (GB) essenziell. Das Vereinigte Königreich ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von umgerechnet 2,5 Billionen Euro die zweitgrösste Volkswirtschaft der Union. Deutschland ist Nummer eins, die hier produzierten Waren und Dienstleistungen liegen bei 3,4 Billionen Euro im Jahr.
Grossbritannien ist Deutschlands drittwichtigster Handelspartner (nach USA und Frankreich), das Exportvolumen lag 2015 bei rund 90 Milliarden Euro. Über 2.500 deutsche Unternehmen sind dort aktiv, umgekehrt haben rund 3.000 britische Firmen Niederlassungen in Deutschland. Ohne GB wird das Übergewicht der Südstaaten inklusive Frankreich übermächtig.

Investoren verlieren Interesse

Der Brexit kann dafür sorgen, dass die Briten den Zugang zum Binnenmarkt neu aushandeln - das gilt vor allem für London, wo mehr Euro-Transaktionen abwickelt werden als in jeder anderen Stadt. Damit wären auch die britischen Exportunternehmen betroffen: Ein Wegfall von GB aus der EU wird die Exporte des Landes reduzieren und erschweren und Importe verteuern. Und: Grossbritannien könnte die Teilhabe an den bestehenden EU-Freihandelsabkommen verlieren. Das wiederum würde sowohl die Briten als auch die anderen EU-Länder schwächen. Auch die Dienstleistungsfreiheit würde beeinträchtigt.
Britische Firmen werden schlichtweg an Reichweite verlieren, denn sie bekommen nur noch eingeschränkten Zugriff auf den EU-Markt. Im Vergleich mit den in der EU ansässigen Firmen verlieren die britischen Unternehmen so an Attraktivität und Investoren das Interesse - katastrophal vor allem für Jungunternehmen und Start-ups.
Mit diesen Schwierigkeiten müssen sich auch die grossen im vereinigten Königreich aktiven Online-Player wie Amazon, Tescos, Next oder Argos auseinandersetzen. Denn sie exportieren 50 Prozent ihrer Waren in westeuropäische Märkte. Auf Frankreich entfällt in Sachen Import von britischen E-Commerce-Waren dabei ein Anteil von 24 Prozent, gefolgt von Deutschland mit 14 Prozent.

Höhere Kosten und ein Blick in die Zukunft

Laut der E-Commerce Foundation gaben die Briten im vergangenen Jahr 175,1 Milliarden Euro im Online-Handel aus, mehr als Frankreich (64,9 Milliarden), Deutschland (59,7 Milliarden) und Russland (20,5 Milliarden) auf Platz 2 bis 4 zusammen.
GB ist seit jeher EU-Aushängeschild in Sachen Online-Handel. "In UK ist der E-Commerce durch die frühe Adaption durch den englischen Einzelhandel bereits weiter entwickelt als in Deutschland", so Arne Vogt, Gründer der Unternehmensberatung Artavo gegenüber E-Commerce News. Click & Collect oder Same Day Delivery sind längst etabliert, das Bezahlen via Kreditkarte ist Usus.
Das Berliner E-Commerce Unternehmen Visual meta befürchtet in seiner "Brexit Analyse" einen Kostenanstieg für Online Shopper innerhalb und ausserhalb der UK von zwei Prozent bis zu 15 Prozent (abhängig von der jeweiligen Produktkategorie). E-Commerce Unternehmen in GB hätten mit höheren Lieferkosten und den unterschiedlichen Steuer- und Zollsystemen einen bedeutenden Nachteil.  
Es besteht also die Gefahr, dass deutsche Online Shopper Bestellungen aus Grossbritannien, die sich über dem zollfreien Betrag bewegen, weitestgehend vermeiden. Nun werden die Briten natürlich versuchen, das Free Trade Agreement (FTA) mit der EU aufrechtzuhalten. Denn wenn es hier zu keiner Einigung kommt, steigen zwangsläufig Ungleichheiten in der Steuerstruktur und höhere Zölle sorgen für einen deutlichen Anstieg der Kosten für E-Commerce-Firmen in GB.

Blick auf Branchen

Leidtragende gibt es in fast allen Branchen, besonders betroffen sind aus deutscher Sicht aber exportstarke und mittelständisch geprägte Industrien wie etwa der Maschinenbau, da Grossbritannien zu den traditionellen Kernmärkten des deutschen Maschinenbaus in Europa gehört. Deutschland ist der wichtigste Maschinenlieferant Grossbritanniens. Bisher gab es laut dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) aber noch keine Anzeichen, dass sich britische Kunden im grossen Stil mit Bestellungen zurückhalten.
In GB trifft es laut Visual meta die Modebranche am härtesten. Hier wird ein Umsatzrückgang von zwei bis vier Prozent prognostiziert. Auch die Investitionen innerhalb der UK, insbesondere im E-Commerce Bereich, sollen signifikant zurückgehen. Investoren würden die "Kapitalfluss-Richtlinien" (aus UK in die EU) abschrecken und ihre potenziellen Investments mit einem niedrigeren ROI bewerten.

Was nun?

Für Deutschland ist es nun wichtig, die Auswirkungen auf die deutsche und europäische Digitalwirtschaft möglichst gering zu halten, meint Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Schwer wird es künftig insbesondere für Dienstleister und Start-ups. Rohleder: "Es ist zu erwarten, dass sich Grossbritannien von den Standards des digitalen Binnenmarkts entfernen wird. Für Unternehmen aus Deutschland bedeutet das, dass sie sich mit abweichenden Regeln in Grossbritannien beschäftigen müssen."
Gerade für Mittelständler und Start-ups sei das oft kaum möglich. Und IT-Dienstleister, die fast immer in internationalen Teams arbeiten, werden künftig nicht mehr von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren können.
Ein anderer wichtiger Aspekt: "Von der gerade mühsam verabschiedeten EU-Datenschutzgrundverordnung über Verbraucherschutzrechte und Umweltschutzrichtlinien sind eine Vielzahl von Regelungen durch den Brexit betroffen. Diese werden mit Vollzug des Austritts ihre Gültigkeit verlieren oder in Frage gestellt", mahnt Rohleder. "Unternehmen, die ihre Zentralen in Grossbritannien haben oder dort über Niederlassungen verfügen, werden davon betroffen sein - etwa wenn der freie Austausch zum Beispiel von Kundendaten eingeschränkt ist oder sie sich an unterschiedliche Verbraucherschutzrechte anpassen müssen."
Grossbritannien steht jetzt erst einmal eine schwierige Zeit bevor. "Es wird ein sehr langer Kater werden für die EU, aber vor allem für Grossbritannien, weil aus meiner Sicht uns jetzt auch sehr schwierige Verhandlungen, was den Austritt anbelangt, bevorstehen", so der Vorsitzende der deutsch-britischen Parlamentariergruppe, Stefan Mayer. Ein Austritt könnte dann mit dem 1. Juli 2018 rechtskräftig werden.



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