Mobile-Commerce-Strategie 07.04.2019, 21:27 Uhr

Gründe für und gegen Progressive Web Apps

Progressive Web Apps gelten als ein Trend im Webseiten-Design. Setzen sie sich auch im E-Commerce durch? Das Meinungsbild ist noch geteilt.
(Quelle: shutterstock.com/Prabowo96)
Zuverlässig und schnell sollen sie sein und zudem ein gutes Nutzungserlebnis bieten: So beschreibt Google die Anforderungen an Progressive Web Apps (PWA). Sie sind eine Art Zwitter, weil durch sie die Unterschiede zwischen einer mobilen Webseite und einer nativen mobilen App verwischen. Oder anders gesagt: Eine Progressive Web App ist eine responsive Webseite, die zusätzlich mit Funktionen von nativen mobilen Apps ausgestattet ist.
Dazu zählt unter anderem die Möglichkeit, Push-Nachrichten zu empfangen oder ein Icon auf dem Homescreen des Geräts abzulegen, sodass darüber das Webangebot direkt aufgerufen werden kann. Ausserdem sollen Progressive Web Apps offline funktionieren, also auch dann, wenn gerade keine Verbindung zum Internet besteht. INTERNET WORLD BUSINESS hatte bereits im Juni 2018 über Progressive Web Apps ­berichtet und die Grundlagen erklärt.
Die IT-Analysten des Beratungsunternehmens Gartner gehen davon aus, dass sich Progressive Web Apps in den nächsten Jahren weiter verbreiten werden. Die Konsumenten seien "App-müde". Das zwinge die Verantwortlichen für mobile Strategien dazu zu überdenken, welchen Weg sie für das mobile Webangebot ihres Unternehmens wählen. Die Gartner-Analysten prognostizieren, dass im Jahr 2020 die Hälfte aller mobilen Apps für Verbraucher durch Progressive Web Apps ersetzt sein werden.

Besseres Nutzungserlebnis soll zu mehr Käufen führen

Auch wenn die Veränderung vielleicht nicht ganz so schnell eintreten wird, wie es die Analysten voraussagen, ist es interessant, sich im Markt umzuhören, was diese Entwicklung für Online Shops bedeutet. Schliesslich sollen PWA die Konversionsraten erhöhen, weil sie ein besseres (mobiles) Nutzungserlebnis bieten und insgesamt für eine bessere Performance der Webseite auf unterschiedlichen mobilen Geräten und Browsern sorgen.
Einen Hinweis darauf, wie relevant PWA für den digitalen Commerce aktuell sind, liefern die entsprechenden Aktivitäten von Shopsoftware-Anbietern. INTERNET WORLD BUSINESS hat 27 Hersteller von Commerce-Lösungen um eine Einschätzung gebeten. Die Fragen lauteten: "Setzen Sie sich mit Progressive Web Apps auseinander?" und "Welche ­Bedeutung messen Sie ihnen zu?" Das ­Ergebnis: Der Grossteil befasst sich derzeit mit PWA. Doch nur wenige Anbieter ­unterstützen Online-Händler bereits mit einem PWA-Storefront oder mit Entwicklerwerkzeugen für PWA.
Im Rahmen einer INTERNET WORLD BUSINESS-Umfrage zu Neuerungen bei Commerce-Lösungen hatte Magento 2017 als einziger Shopsoftware-Anbieter darüber berichtet, an Progressive Web Applications zu arbeiten (INTERNET WORLD BUSINESS 24/17, Seite 28). Im November 2018 hat Magento dann mit der Version "Magento 2.3" die erste Version seines "PWA-Studios" auf den Markt gebracht. Es beinhaltet Frontend-Developer-Tools, mit denen Entwickler PWA-Storefronts für Magento bauen können, zum Beispiel das PWA-Store-Template "Venia". Erste PWA-Projekte befinden sich nach Angaben von Magento aktuell in der Umsetzung.

Die nächste Evolutionsstufe im Webdesign

Magento ist überzeugt, dass PWAs die nächste Evolutionsstufe im Webdesign sein werden. Gleichzeitig werde die Entwicklung von nativen mobilen Apps stark zurückgehen, so das Unternehmen. Magento zufolge sprechen viele Gründe für PWAs: Sie sind schneller als native Apps, was zu niedrigeren Absprungraten, höheren Online Conversions und besseren Shopping-Erlebnissen führt. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Inhalte von PWA von Suchmaschinen indexiert werden können, die Inhalte von nativen Apps jedoch nicht.
Dass auf die Hardware von mobilen Geräten zugegriffen werden kann, beispielsweise um mit der Kamera Barcodes zu scannen, mache PWA ebenfalls für den ­E-Commerce interessant, heisst es seitens Magento. Gleiches gelte für die Funktion, Push-Nachrichten auf mobilen Geräten empfangen zu können. Auf diese Funktion verweist auch Commercetools. Der Anbieter des gleichnamigen Shopsoftware-Baukastens bietet mit seiner neuen Version des Quickstart-Templates "Sunrise" eine Progressive Web App. Commercetool-Kunden können sie dem Unternehmen zufolge beliebig anpassen.

Kostenvorteil als Argument

E-Matters beschäftigt sich ebenfalls schon seit einiger Zeit mit PWA. "Im Zuge der neuen Version der 'E-Commerce-Suite' ist ein Framework zur einfacheren Realisierung von PWA entstanden", berichtet ­Kevin Besthorn, Geschäftsführer von E-Matters. Kunden des Unternehmens können die PWA selbst oder über einen Dienstleister erstellen. "Im mobilen Zeitalter zählen die Vorteile einer gewissen Offline-Nutzung, das benutzerfreundliche App-Erscheinungsbild und die kürzeren Ladezeiten", erklärt Besthorn und verweist zudem auf einen Kostenvorteil. Im Vergleich zur Entwicklung nativer Apps seien PWA kostengünstiger, sodass PWA auch für kleinere oder spezifische Anwendungsfälle infrage kämen. Besthorn weist jedoch darauf hin, dass es für bestimmte Anwendungsfälle auch künftig native Applikationen geben werde, beispielsweise für Games.
Die SAP Commerce Cloud stellt ebenfalls ein PWA-Storefront bereit. Als Argument für PWA spreche, dass Marken und Händler ihren Kunden damit ähnliche Funktionen wie in nativen Apps bieten können, ohne in die Entwicklung und die Pflege von separaten nativen Apps investieren zu müssen, so SAP. Ähnlich argumentiert Episerver: "Progressive Web Apps sind nützlich für Unternehmen, die die Funk­tionalität einer App wollen, ohne ihre ­eigene erstellen zu müssen."
Progressive Web Apps können also die Antwort auf die häufig diskutierte Frage sein, ob Unternehmen in eine eigene ­mobile App oder in die mobile Webseite investieren sollen. Wenn die Webseite als PWA gestaltet wird, wird diese Entscheidung überflüssig. Das sind gute Neuigkeiten für Unternehmen, die keine grosse Markenbekanntheit haben. Denn für sie ist es meistens schwierig, genug Reichweite für eine eigene native App aufzubauen.
Der Shopsoftware-Anbieter Novomind ist der Ansicht, dass PWA das Potenzial haben, zukünftig native Apps für Android oder iOS zu ersetzen und dass sie für Mobile Commerce von grosser Bedeutung sein werden, insbesondere in Ländern mit schlechter Netzabdeckung. "Teile der PWA-Ideen gibt es schon in unserem Standard-Shop 'Novomind iShop Quickstart Store‘", teilt das Unternehmen mit. Auch Intershop misst dem neuen Ansatz für mobil optimierte Webseiten eine sehr hohe Bedeutung bei: "Wir haben eine eigene Progres­sive Web App auf Basis von Angular für B2C-, B2B- und B2X-Geschäftsmodelle entwickelt", so das Jenaer Unternehmen.

Responsive Webseiten reichen vielen aus

Doch nicht bei allen Shopsoftware-Anbietern stehen Progressive Web Apps auf der Prioritätenliste. Lennard Kläfker von Gambio meint, dass sich das Unternehmen intern mit Progressive Web Apps ­befasst habe, neben den Vorteilen aber auch Nachteile sehe: "Für den Betrieb ­eines Online Shops ist immer ein gewisser Grundbedarf an Live-Daten vorhanden, auf die schlicht nicht verzichtet werden kann. Daher ist es eine Herausforderung, einen Shop sinnvoll in einer Progressive Web App umzusetzen", differenziert Kläfker. Gambio werde die Entwicklung im Blick behalten, aktuell sei aber nichts in Richtung PWA geplant. Auch bei Dynamic Commerce, Anbieter der gleichnamigen E-Commerce-Lösung, steht in den nächsten zwei Jahren keine konkrete ­Implementierung auf der Roadmap.
Bei Speed4Trade sind Progressive Web Apps in der Beratungs- und Konzept­phase immer wieder ein Thema. "Meist entscheidet sich der Kunde aber dann doch für eine native App, um das gesamte Potenzial der Geräte auszuschöpfen", berichtet das Unternehmen. Auch für Kunden, die den "Oxid eShop" verwenden, ist das Thema noch kaum relevant. Roland ­Fesenmayr, CEO von Oxid eSales, sagt: "Oxid setzt sich mit Progressive Web Apps auseinander. In der Oxid-Zielgruppe sind PWAs jedoch kaum gefordert, da ein responsives Shop-Design oftmals ausreicht."
Mit dem Verweis auf responsives Web­design reagiert auch Shopify auf die Frage nach PWA. Ferry Hötzel, Country Product Manager für die DACH-Region bei Shopify, verweist darauf, dass das Produktportfolio von Shopify für alle Geräte optimiert sei und immer responsiv in allen ­Internet-Browsern funktioniere. Deshalb spielen Progressive Web Apps für Shopify eine untergeordnete Rolle.
Websale reagiert zurückhaltend auf PWA: "Aufgrund der immer noch unzureichenden Unterstützung bei Apple sowie der immer noch zu grossen Abhängigkeit von den Funktionen der Browser können unsere Versender eine native App mit ­Integration des Shops sowie verschiedenen Marketingfunktionen nutzen."
Die Meinungen zur Bedeutung von Progressive Web Apps im digitalen Handel sind also noch geteilt. Während PWA für die einen der nächste grosse Design-Trend ist, blicken andere eher nüchtern auf das Thema. Silvan Dolezalek, Geschäftsführer von Cosmoshop, schätzt, dass PWA in ­Zukunft noch viel häufiger eingesetzt werden: "Wir haben aktuell Kunden, die sich ein umfassendes B2B-Shop-System als App umbauen lassen."

Interview: Auf drei Wegen zu einer PWA

Frontastic ist ein Frontend-as-a-Service für transaktionale Geschäftsmodelle. Das Unternehmen bietet eine Plattform zur Entwicklung von Progressive Web Apps an. Frontastic wird mit Shopsystemen wie Commercetools, Spryker und Shopware verbunden. Im Interview erläutert , warum Progressive Web Apps für den digitalen Handel spannend sind.

Wie schätzen Sie die Bedeutung von Progressive Web Apps ein?

Thomas Gottheil: Für uns steht fest, dass das die Richtung ist, in die sich Webseiten entwickeln werden. PWA bieten Kunden das bessere Nutzungs­erlebnis, weil Webseiten schneller und performanter werden. Und für Seitenbetreiber verringert sich der Support-Aufwand, weil sie keine eigene mobile App mehr benötigen, sondern nur mit einer Webseite, eben mit einer Progressive Web App, arbeiten.
Frontastic-Gründer Thomas Gottheil
Quelle: Frontastic


Als Vorteil von Progressive Web Apps gilt, dass sie auch offline genutzt werden können. Für den Betrieb eines ­Online Shops sind jedoch auch Echtzeitdaten nötig. Wie sehen Sie das?
Gottheil: Die Offline-Funktionen im Commerce-Umfeld sehen wir auch kritisch. Deshalb haben wir sie in der ersten Stufe nicht in unserer PWA inte­griert. Die Offline-Funktion kann dazugehören, ist aber für eine PWA nicht zwingend. Es ist ja nicht fest definiert, welche Funktionen eine PWA hat.

Wie kommen Online Shops zu einer Progressive Web App?
Gottheil: Es gibt drei Möglichkeiten: Weg eins ist ein kompletter Shop Relaunch auf Basis einer PWA. Weg zwei ist, eine PWA im Rahmen eines kleineren Projektes zu testen. Und die dritte Möglichkeit ist, eine PWA auf die bisherige Plattform als Frontend Layer aufzusetzen. Dabei bleiben die Warenkorb- und die Checkout-Funktion unverändert und nur das Shop Frontend wird als PWA gestaltet.

Steigt das Interesse an Progressive Web Apps?
Gottheil: Ja. Gerade grössere Marken und Online Pure Plays beschäftigen sich damit. Apollo-Optik ist einer unserer ersten Referenzkunden, der im April 2019 mit einer PWA live gehen wird.



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