Datensammeln im Netz 26.05.2016, 10:11 Uhr

Die Tracking-Gefahr

So viele User-Daten wie möglich zu sammeln, wird heutzutage oft als unbedingt nötig bezeichnet. Nicht nur die Abwehrhaltung der Nutzer birgt dabei Gefahren.
(Quelle: Shutterstock.com/studiostoks)
So etwas wie Kundenbindung im Embryo­nalstadium muss der US-Retailer Target im Sinn gehabt haben, als er vor einigen Jahren einen Algorithmus ­entwickelte, der schwangere Kundinnen erkennt. Und das noch bevor sie Babyprodukte kaufen. Durch das Sammeln zahlreicher Daten fanden Marketer von Target heraus, was am Beginn der Schwangerschaft gekauft wird: Grosspackungen von Hygieneprodukten, Shampoo ohne Parfüm, Nährstoffpräparate. Hatte man erst einmal potenziell Schwangere erkannt, ­bekamen sie Kataloge mit Coupons für Babyprodukte geschickt.
Werbung wie sie oft als Idealfall geschildert wird: individuell, relevant, richtiger Zeitpunkt. Ein reizvolles Angebot - auch für Kunden. Im Target-Fall stellte sich die Kampagne jedoch als wenig vorteilhaft für eine junge Kundin heraus. Ihr Vater stürmte zu Target und warf dem Retailer vor, seine Tochter zu ­einer viel zu frühen Mutterschaft verführen zu wollen. Einige Tage später folgte die ­Ernüchterung: Das Mädchen hatte ihre Schwangerschaft bisher verheimlicht.
Die 2012 erstmals in der "New York Times" erschienene Geschichte sorgte für Wirbel. Gerade etwas so Persönliches wie eine Schwangerschaft müsse geheim bleiben können, bis die werdende Mutter ­davon erzählt. Alles andere wäre das Ende der Selbstbestimmung.
Die Werbeindustrie teilt diese Bedenken offenbar nicht. So wird auch die Tatsache, dass sich Kunden von der Datensammelwut oder dem Tracking gestört fühlen können, ja Reaktionen auf Unternehmen sogar negativ zurückfallen können, vehement negiert: "Es gibt keine Reaktanzen von Usern. Bis auf wenige Ausnahmen machen sich User nur wenig oder keine Gedanken über das Tracking von Daten", sagt zum Beispiel Benjamin Minack, ­Geschäftsführer der Agentur Ressourcenmangel. Er ist bei Weitem nicht allein. ­Gerade der Jugend, den Kunden von ­morgen, wird eine "Ist mir doch egal was mit meinen Daten passiert"-Einstellung unterstellt.

Anzeichen für Reaktanzen nehmen zu

Ein Grundsatz menschlichen Handelns ist, dass man nur aus eigener Erfahrung lernt. Das gilt auch für Werber. Erst nachdem ein Ereignis eingetreten ist, wird ­etwas geändert, Warnungen werden zu gern in den Wind geschossen, Anzeichen zu oft ignoriert. Und die gibt es, auch wenn die Branche sie gern leugnet: So steigt die Adblocker-Rate immer weiter. Auch wenn OVK-Messungen von "nur" etwas über 20 Prozent ausgehen, von Publishern sind eher 30, teilweise sogar 35 Prozent zu hören. ­Angebote, die Tracking und damit Datensammeln verhindern, nehmen aber zu. Seien es Browser wie Brave oder das Burda-Angebot Cliqz, das Projekt Ooni, das Internet-Zensur visualisieren möchte, oder das Browser-Plugin Blur, das alle persönlichen Informationen im Internet schützen will.
Und wie das mit Angebot und Nachfrage nun mal ist, werden diese Dienste auch immer mehr genutzt. Erst kürzlich vermeldete Facebook, dass mittlerweile eine Million Nutzer über das anonymisierende Netzwerk Tor auf seine Dienste zugreifen. Gerichtsurteile wie die des LG München und des LG Düsseldorf über den gegen Datenschutz verstossenden Facebook-Like-Button und ­eine zunehmende mediale Berichterstattung bringen das Privatsphäre-Thema dazu noch stärker ins Bewusstsein der Nutzer.

Bewusstsein in den USA höher

Dass aus dem ignorierten Schwelbrand auch hierzulande leicht ein Buschfeuer werden kann, zeigt ein Blick in die USA. Die Hälfte der Nutzer, die dort einen Adblocker installiert haben, nutzt ihn, um dem Tracking der Anzeigen zu entgehen, erzählte BVDW-Vizepräsident Thomas Duhr auf der d3con. Laut einer aktuellen Studie von Lithium Technologies fühlen sich 75 Prozent der 16- bis 39-Jährigen in den USA von Marken in den sozialen ­Medien gezielt verfolgt.
Das Bewusstsein für die Allgegenwärtigkeit der Verfolgung im Internet ist jenseits des Atlantiks grösser als in Europa. 87 Prozent der Amerikaner wissen von den NSA-Programmen Prism und Upstream, die unter Mithilfe zahlreicher Tech-Unternehmen einen Grossteil der Internet-Kommunikation überwachten und deren Existenz Edward Snowden vor drei Jahren enthüllte. Das belegen zahlreiche Quellen. Ein Drittel davon hat anschliessend sein Surf- und ­Telefonieverhalten geändert.
Manchmal kommt das Gefühl auf, die Sammelwut der Unternehmen kenne ­keine Grenzen. Jedes Banner trackt, Facebook verfolgt User mit Plugins über das ganze Internet, Google liest E-Mails mit. Mit Algorithmen ist es möglich, die Kreditwürdigkeit eines Users anhand seiner ­Facebook-Posts festzustellen oder ihn auf Basis der angeklickten Websites mit hoher Wahrscheinlichkeit in die richtige Zielgruppe einzuordnen.  Und all das, um die immer wieder zitierte ­Regel zu widerlegen, dass 50 Prozent vom Werbebudget umsonst ausgegeben werden?



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