Der Fall Birkenstock: Gefangen auf Amazon?

Wer selektiven Vertrieb halbherzig umsetzt, kann es gleich ganz lassen

Die Krux an der Sache mit dem selektiven Vertrieb ist allerdings: Verfügungsbefugnisse haben Markeninhaber nur, wenn sie ein derartiges System europaweit sauber umgesetzt haben. Jedes noch so kleine Loch macht die Bemühungen zunichte. In der Praxis passiert aber häufig genau das - auch wenn "die Alphamanager der Brands", wie es Berater Forsthofer formuliert, "das oft nicht wahrhaben wollen." Weil die Umstellung auf selektiven Vertrieb ein Kraftakt ist, sparen sich Hersteller in Ländern, in denen die Vertriebskanäle auf den ersten Blick sauber wirken, den Aufwand. Damit allerdings erschöpfen sich aus juristischer Sicht sämtliche Marken- und Patentrechte, wie Jochen Schäfer erklärt: "Wenn Markenartikel erstmalig im Geltungsbereich des europäischen Wirtschaftsraums einschliesslich Schweiz, Norwegen, Liechtenstein plus die 28 EU-Mitgliedsstaaten auf den Markt ­gebracht worden sind, dann ist es Originalware und der Rechteinhaber kann dagegen in aller Regel nicht intervenieren."
Exemplarisch ist das am Beispiel Deuter zu sehen: Der Outdoor-Ausrüster aus der Schwan-Stabilo-Gruppe ist in Deutschland nicht nur streng in der Händlerauswahl. Die Marke ging auch mit am härtesten gerichtlich gegen den Vertrieb ihrer Produkte auf Amazon vor. Doch das Ganze entwickelte sich zum Scheingefecht: Obwohl das Urteil bereits Mitte vergangenen Jahres rechtskräftig wurde, finden sich noch ­immer mehr als 4.000 Deuter-Produkte auf dem Amazon-Marktplatz. Hübner kennt den Grund: "Die ziehen das Reglement zwar in Deutschland durch. Ich gehe aber davon aus, dass viele Deuter-Produkte aus dem europäischen Ausland reinkamen."

Kooperation ist besser als Boykott

Wer den Vertrieb seiner Produkte auf Marktplätzen nicht rechtswirksam unterbinden kann, hat zwei Alternativen: aktiv mit ihnen zu kooperieren oder beobachten und erdulden, was passiert. "Das ist mitunter die schwierigste Entscheidung und sie kann heute anders lauten als in fünf Monaten", sagt Hübner. Jede Kehrtwende sei legitim. Branchenkollege Forsthofer legt nach: "Man kann nicht nicht Amazon machen", sagt er. Wenn sich die Marke nicht mit dem Thema auseinandersetze, würden es die Händler machen. Und das sei im Zweifel immer die schlechtere Wahl.
Als wichtigste Voraussetzung für eine Entscheidungsfindung sehen Forsthofer und Hübner unisono, dass Markenhersteller das Ökosystem Amazon erst einmal grundlegend verstehen müssen. Doch hier fangen die Probleme schon an. Denn Amazon-Experten sind selten und der Markt ist leergefegt. Grosse Händler wie etwa Ikea zahlen für derartige Mitarbeiter inzwischen Jahresgehälter, von denen der Geschäftsführer eines mittelständischen Herstellerunternehmens nur träumen kann. Und auch die Dienstleister, die in Sachen Amazon beraten, brechen förmlich unter der Fülle an Mandaten zusammen. 
Trotzdem braucht es Branchenkenner, die potenzielle Folgen von Entscheidungen abschätzen können. Denn die können weitreichend sein, wie das Beispiel eines Sportartiklers zeigt, der im Markt nicht zu den Top-Brands wie Adidas zählt, sondern eher im Mittelfeld agiert. Dieser hatte eine ­Direktbeziehung zu Amazon, bis eine mächtige Verbundgruppe damit drohte, seine Marke auszulisten, wenn er seine Belieferung an Amazon nicht einstellt. Da der Umsatz über die Verbundhändler fast doppelt so hoch war wie der mit Amazon, gab die Marke zähneknirschend dem Druck der Verbundgruppe nach. Was dann passierte, war im Businessplan nicht vorgesehen: Weil es keine direkte Lieferantenbeziehung mehr zu Amazon gab, konnte der Hersteller auch nicht mehr auf Amazon einwirken. Die Händler hatten somit freie Fahrt. Da sie aufgrund strikter Vertriebsbedingungen bei Amazon nicht mit Adidas-Produkten auf sich aufmerksam machen konnten, nutzten sie stattdessen die B-Marke - und generierten Aufmerksamkeit ­natürlich ausschliesslich über den Preis. "Damit ruinieren sich gerade Marktstrukturen", warnt Hübner. Denn wenn man mit seinem Produkt den Umsatz nicht selbst über Amazon erwirtschaftet, müsse man hoffen, dass die eigenen Händler das tun. "Realistisch allerdings wird eher eine ­andere Marke davon profitieren."
"Marken sollten eine Strategie parat haben, wie sie mit Amazon umgehen wollen, wenn es kritisch wird", rät Hübner - und meint mit "kritisch" auch, dass Amazon ­irgendwann im Laufe einer Geschäftsbeziehung versucht, die Konditionen zu seinen Gunsten zu optimieren. Seine Empfehlung in diesem Fall: eine Mischung aus Vendor- und Seller-Programm. Viele Marken würden inzwischen dazu übergehen, ihr Standardsortiment in einer Lieferantenbeziehung an Amazon zu verkaufen und bei Produkt-Launches oder exklusiven Produkten selbst als Verkäufer aufzutreten. Doch ein solches potenzielles Exit-Szenario muss in guten Zeiten vorbereitet werden. Denn die wenigsten Unternehmen verfügen über ausreichend Kapazität, um die Millionen­umsätze, die bislang im Vendor-Modell über Amazon FBA abgewickelt wurden, mit der eigenen Inhouse-Logistik inklusive Retourenhandling abzuwickeln. "Die ­Unternehmen sind in der Amazon-Welt gefangen - und das nutzt Amazon aus", ist Hübner überzeugt.




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